ISTANBUL (dpa) — Belei­di­gun­gen und Angrif­fe mit Steinen — die Atmosphä­re in der Türkei wurde vor der Wahl immer angespann­ter. Die Abstim­mung gilt als richtungs­wei­send — auch in Deutsch­land wird das Ergeb­nis mit Spannung erwartet.

In der Türkei hat eine richtungs­wei­sen­de Wahl begon­nen. Rund 61 Millio­nen Menschen sind am Sonntag dazu aufge­ru­fen, über ein neues Parla­ment und den Präsi­den­ten abzustim­men. Amtsin­ha­ber Recep Tayyip Erdogan muss nach 20 Jahren an der Macht um seine Wieder­wahl bangen.

Umfra­gen deuten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Erdogan und seinem Heraus­for­de­rer, dem Opposi­ti­ons­füh­rer Kemal Kilicda­ro­g­lu, hin. Die Wahllo­ka­le schlie­ßen um 17.00 Uhr (Ortszeit/16.00 MESZ). Mit belast­ba­ren Ergeb­nis­sen wird am späten Sonntag­abend deutscher Zeit gerechnet.

Wahlbe­rech­tig­te in Deutsch­land haben bereits abgestimmt. Dort waren rund 1,5 Millio­nen Menschen mit türki­schem Pass zur Wahl augeru­fen. Bei den vergan­gen Wahlen 2018 hatte knapp die Hälfte der stimm­be­rech­tig­ten Türken in Deutsch­land ihr Wahlrecht genutzt. Rund 65 Prozent stimm­ten damals für Erdogan.

Die diesjäh­ri­ge Wahl findet in der Türkei in angespann­ter Atmosphä­re statt. Es gibt Befürch­tun­gen, dass Erdogan eine Nieder­la­ge nicht akzep­tie­ren könnte. Am Freitag hatte der Präsi­dent jedoch erklärt, das Ergeb­nis in jedem Fall anerken­nen zu wollen.

Abstim­mung in der Erdbe­ben­re­gi­on Adiyaman

Das Inter­es­se an der Wahl war bereits am Morgen groß. Im konser­va­ti­ven Istan­bu­ler Bezirk Üsküdar bilde­ten sich lange Schlan­gen, wie ein dpa-Repor­ter berich­te­te. Eine Frau mittle­ren Alters, die sich als Sevinc vorstell­te, sagte, die Wahl sei «leider das einzi­ge Feld, in denen das Volk seine Freiheit nutzen kann». Sie hoffe auf eine hohe Betei­li­gung. Der 57-jähri­ge Fikret Koc sagte, er unter­stüt­ze den «Anfüh­rer» Erdogan. Er habe die Türkei stark gemacht und vorangebracht.

Auch in der Erdbe­ben­re­gi­on Adiya­man gingen die Menschen an die Urnen. Nach Einschät­zung eines lokalen dpa-Mitar­bei­ters war der Andrang am Morgen aber verhal­te­ner als in den vergan­ge­nen Jahren. Einige seien extra für die Wahl aus Notun­ter­künf­ten an ihren frühe­ren Wohnort gekom­men. In den von den Erdbe­ben betrof­fe­nen Provin­zen wird in Contai­nern oder noch intak­ten Schulen abgestimmt. Nach den Beben in der Südost­tür­kei am 6. Febru­ar mit Zehntau­sen­den Toten war Kritik am Krisen­ma­nage­ment der Regie­rung laut geworden.

Seit der Einfüh­rung eines Präsi­di­al­sys­tems vor fünf Jahren hat der 69 Jahre alte Erdogan so viel Macht wie noch nie und kann weitest­ge­hend am Parla­ment vorbei regie­ren. Kriti­ker befürch­ten, dass das Land mit rund 85 Millio­nen Einwoh­nern vollends in die Autokra­tie abglei­ten könnte, sollte er erneut gewin­nen. Auch inter­na­tio­nal wird die Abstim­mung in dem Nato-Land aufmerk­sam beobachtet.

Kilicda­ro­g­lu (74) ist Chef der sozial­de­mo­kra­ti­schen CHP und kandi­diert für ein Bündnis aus sechs Partei­en. Er verspricht die Rückkehr zum parla­men­ta­ri­schen System. Der dritte Kandi­dat, Sinan Ogan, hat keine Aussicht auf einen Sieg. Ein weite­rer Heraus­for­de­rer, Muhar­rem Ince, hatte sich aus dem Rennen zurück­ge­zo­gen, sein Name steht aber noch auf dem Wahlzet­tel. Gewinnt keiner der Kandi­da­ten in der ersten Runde die absolu­te Mehrheit, kommt es in zwei Wochen — am 28. Mai — zu einer Stichwahl.

Im Parla­ment hält Erdogans islamisch-konser­va­ti­ve AKP zurzeit eine Mehrheit im Bündnis mit der ultra­na­tio­na­lis­ti­schen MHP. Ob Erdogan diese halten kann, ist offen. Als Zünglein an der Waage gilt die prokur­di­sche HDP. Sie gehört nicht zu Kilicda­rog­lus Sechser-Bündnis, unter­stützt ihn aber bei der Präsidentenwahl.

Der Wahlkampf galt als unfair, vor allem wegen der media­len Übermacht der Regie­rung. Bestim­men­des Thema war vor allem die schlech­te wirtschaft­li­che Lage mit einer massi­ven Infla­ti­on. Erdogan versprach unter anderem eine Anhebung von Beamten­ge­häl­tern und weite­re Inves­ti­tio­nen in die Rüstungs­in­dus­trie. Er führte eine aggres­si­ve Kampa­gne, beschimpf­te die Opposi­ti­on als «Terro­ris­ten» und äußer­te sich feind­lich gegen­über lesbi­schen, schwu­len und queeren Menschen.

Auftritt mit kugel­si­che­rer Weste

Ein belieb­ter Opposi­ti­ons­po­li­ti­ker war nur eine Woche vor der Wahl mit Steinen bewor­fen worden. Kilicda­ro­g­lu trug am Freitag bei einem Auftritt in der Erdogan-Hochburg Samsun eine kugel­si­che­re Weste.

Kilicda­ro­g­lu gilt als beson­ne­ner Politi­ker. Er stammt aus der osttür­ki­schen Provinz Tunce­li und gehört der religiö­sen Minder­heit der Alevi­ten an. Der Opposi­ti­ons­füh­rer will die Unabhän­gig­keit von Insti­tu­tio­nen wie der Zentral­bank wieder­her­stel­len und die hohe Infla­ti­on in den Griff bekom­men. Er steht für eine Wieder­an­nä­he­rung an Deutsch­land und die EU, aber auch für eine schär­fe­re Migrationspolitik.

In der EU und in der Nato dürfte es kaum einen Spitzen­po­li­ti­ker geben, der einen Macht­wech­sel in Ankara bedau­ern würde. Seitdem Erdogan den Putsch­ver­such im Jahr 2016 als Vorwand für eine Einschrän­kung von Grund­rech­ten nutzte und Opposi­tio­nel­le und Journa­lis­ten inhaf­tie­ren ließ, sind die Bezie­hun­gen eisig. Die EU legte Beitritts­ver­hand­lun­gen und Gesprä­che über eine Erwei­te­rung der bestehen­den Zolluni­on auf Eis. Mit Kilicda­ro­g­lu kann das alles nur besser werden, lautet deswe­gen in Brüssel die vorherr­schen­de Meinung.

In der Ampel-Koali­ti­on gibt man sich auch hinter vorge­hal­te­ner Hand zurück­hal­tend. Selbst wenn das Bündnis von Kilicda­ro­g­lu gewin­ne, bleibe abzuwar­ten, wie sich die unter­schied­li­chen Partner inhalt­lich zusam­men­fin­den würden, ist zu hören. Dies gelte auch für die großen Themen wie die Haltung der Türkei zu Russland, die Durch­set­zung von Sanktio­nen oder den Umgang mit den Flüchtlingen.

Erdogans islamisch-konser­va­ti­ve AKP kam 2002 an die Macht. Ein Jahr später wurde Erdogan Minis­ter­prä­si­dent, seit 2014 ist er Staats­prä­si­dent. In seinen ersten Regie­rungs­jah­ren galt er als Refor­mer und sorgte für einen wirtschaft­li­chen Aufschwung. Viele seiner eigenen Refor­men hat Erdogan inzwi­schen zurück­ge­dreht. Die regie­rungs­kri­ti­schen Gezi-Protes­te, die sich in zwei Wochen zum zehnten Mal jähren, ließ Erdogan niederschlagen.

Die Parla­ments- und Präsi­den­ten­wahl hätte regulär im Juni statt­ge­fun­den. Erdogan hatte sie auf den 14. Mai vorge­zo­gen. Wahlbe­ob­ach­ter der OSZE und des Europa­rats verfol­gen die Abstimmung.

Von Mirjam Schmitt, dpa