MOSKAU/KIEW (dpa) — Mit schnel­len beweg­li­chen Einhei­ten durch­bricht die ukrai­ni­sche Armee im Osten die russi­sche Front. Nun droht einem großen russi­schen Verband die Einschlie­ßung. Das drückt auch auf die Stimmung in Russland.

In der Klein­stadt Balak­li­ja weht seit Donners­tag wieder die gelb-blaue Flagge der Ukrai­ne über dem Rathaus. Seit Anfang März war die 30.000-Einwohner-Gemeinde 100 Kilome­ter südöst­lich der Millio­nen­stadt Charkiw von russi­schen Truppen besetzt, ehe sie im Zuge der ukrai­ni­schen Gegen­of­fen­si­ve im Osten des Landes wieder unter die Kontrol­le Kiews kam.

Balak­li­ja galt als strate­gisch wichti­ger Vorpos­ten der russi­schen Armee. Von hier aus sollten die Truppen weiter vorrü­cken, um die ukrai­ni­sche Gruppie­rung im Donbass, die im Ballungs­raum Slowjansk und Krama­torsk konzen­triert ist, zu umgehen und von Nordwes­ten her zu attackie­ren. Mit den schon vorhan­de­nen russi­schen Streit­kräf­ten südlich der Klein­stadt Isjum hätten sie eine Art Zange gebil­det, die den Vertei­di­gungs­rie­gel knacken sollte. Auf der Balak­li­ja gegen­über­lie­gen­den Seite des Flusses Siwers­kyj Donez hatten die Russen schon einen Brücken­kopf gebildet.

Ukrai­ner stehen vor wichti­gem Verkehrsknotenpunkt

Diese Offen­siv­plä­ne müssen die Russen mit der Aufga­be von Balak­li­ja nun wohl begra­ben. Doch der Verlust der Stadt ist bei weitem nicht ihr größtes Problem: Die Ukrai­ner haben mit ihrem schnel­len Vormarsch eine 50 Kilome­ter lange Schnei­se in das Hinter­land der russi­schen Truppen geschnit­ten. Nun stehen sie direkt vor der Klein­stadt Kupjansk, die wegen ihres direk­ten Bahnan­schlus­ses an Russland als Verkehrs­kno­ten­punkt wichtig für die Versor­gung des gesam­ten Truppen­ver­bands um Isjum ist.

Immer­hin geht es um mehr als 10.000 Solda­ten. Der Verband droht nun einge­schlos­sen zu werden, denn westlich, südlich und dank des schnel­len Vorsto­ßes auch nördlich stehen auf einmal ukrai­ni­sche Einhei­ten. Im Osten behin­dert der teils zum Stausee geform­te Oskil, der hier in den Siwers­kyj Donez fließt, Versor­gung oder Rückzug.

Es scheint die schwers­te Krise der russi­schen Armee seit dem Rückzug ihrer Truppen vor Kiew zu sein, den Moskau damals noch zur «Geste guten Willens» dekla­rier­te. Poten­zi­ell droht den Russen nun die Initia­ti­ve gleich an zwei Front­ab­schnit­ten zu entglei­ten. Neben dem Gebiet Charkiw im Norden gehen auch im südukrai­ni­schen Gebiet Cherson die Angrif­fe der Kiewer Truppen weiter – mit dem Versuch, die russi­schen Truppen dort über den Dnipro zurückzudrängen.

Lethar­gie in Russland

Die schwie­ri­ge militä­ri­sche Lage strahlt auch in Russlands Gesell­schaft. Dort ist nach mehr als einem halben Jahr Krieg bei einigen die anfäng­lich natio­na­lis­ti­sche Eupho­rie mittler­wei­le einer Lethar­gie gewichen.

In den vergan­ge­nen Tagen verschärf­te sich der Ton in den sozia­len Netzwer­ken gegen die eigene Militär­füh­rung deutlich. Die Kritik richtet sich haupt­säch­lich gegen zwei Punkte: zum einen gegen die offen­sicht­lich falsch einge­schätz­te Lage und zum anderen gegen die fehlen­de Infor­ma­ti­ons­po­li­tik. Ein mögli­cher Schlag in der Gegend sei seit einem Monat bekannt gewesen, klagte etwa der Vizechef der Moskau­er Stadt­du­ma, Andrej Medwe­dew. Die jetzi­ge Entwick­lung hätte also voraus­ge­se­hen werden können. Der Blogger Juri Podol­ja­ka räumte ein, dass die Ukrai­ner die russi­sche Armee an dieser Stelle «überspielt» hätten.

Der spürba­re Unmut nach den Rückschlä­gen bei Kiew, dem Verlust der Schlan­gen­in­sel, des versenk­ten Kreuzers «Moskwa» (Moskau) und den ständi­gen Angrif­fen auf grenz­na­he russi­sche Gebie­te spürba­re wird nun noch lauter. Zwar heißt die Devise weiter «keine Panik», doch lassen sich die Schwä­chen des russi­schen Militärs nach der Schlap­pe von Balak­li­ja nicht mehr verbergen.

Und statt wie bisher üblich von «Offen­si­ve», «Angriff» und «Vormarsch» ist nun von «Vertei­di­gung» die Rede. Der russi­sche Kriegs­kor­re­spon­dent Semjon Pegow stellt in seinem Telegram-Kanal ungläu­big die Frage: «Wie konnte das passie­ren? Warum? Wer ist schuld?» Sein Kolle­ge beim Staats­fern­se­hen, Andrej Ruden­ko, verlangt harte Maßnah­men gegen die Verantwortlichen.

Auch der natio­nal­pa­trio­ti­sche Militär­blog «Rybar» forder­te nach dem Einbruch, dass «endlich Köpfe rollen müssen» und dass endlich dieses «Spielen eines Kriegs aufhö­ren» müsse. Zugleich kriti­sier­te er das paral­lel zum Krieg mehre­re Tausend Kilome­ter entfernt statt­fin­den­de Militär­ma­nö­ver «Wostok-2022», zumal die Armee­füh­rung dort die gleichen takti­schen Fehler wieder­ho­le, die sie schon im Krieg demons­triert habe. «Die Militär­füh­rung lernt nicht und will nicht lernen», schluss­fol­ger­ten die Macher des Blogs.

Ultra­na­tio­na­lis­ti­sche Russen üben Kritik

Die schärfs­te Kritik übte gewohn­heits­mä­ßig Igor Girkin, bekannt unter seinem Deckna­men Strel­kow. Der einsti­ge russi­sche Geheim­dienst­of­fi­zier, der 2014 den Separa­tis­ten­auf­stand im Donbass anführ­te, beklagt seit Monaten die seiner Meinung nach ungenü­gen­de Härte gegen Ukrai­ner, die Unfähig­keit der russi­schen Militär­füh­rung und die teils absur­den Erfolgs­mel­dun­gen des General­stabs. Er fordert eine General­mo­bil­ma­chung in Russland für einen großen Krieg gegen den Nachbarn. Ansons­ten werde Russland verlie­ren, warnt er. «Ich habe das Gefühl, dass im Oktober unsere Armee zusam­men­bricht», sagte er nach der ukrai­ni­schen Gegen­of­fen­si­ve in Balaklija.

Girkin präsen­tiert den ultra­na­tio­na­lis­ti­schen Teil der russi­schen Gesell­schaft. Aller­dings einen, den Wladi­mir Putin durch seine Großmacht­rhe­to­rik jahre­lang gestärkt und auf den er sich selbst in seiner Politik gestützt hat. Der Angriff auf die Ukrai­ne, die als Teil «der russi­schen Welt» zurück­ge­holt werden sollte, wurde gerade von diesem Teil der Bevöl­ke­rung befür­wor­tet. Einen nicht unbeträcht­li­chen Teil seiner Autori­tät bezog Putin aus der Annexi­on der Krim 2014, auf die viele Russen bis heute stolz sind.

Doch die jetzi­ge Nieder­la­ge kratzt auch am Nimbus des «Militär­ge­nies» Putin. Zumal weder seine Generä­le noch sein Sprecher Dmitri Peskow dazu Stellung nehmen wollen, um die Lage zu erklä­ren. Das Moskau­er Mantra «Alles läuft nach Plan» reicht als Beruhi­gung längst nicht mehr aus. Beobach­tern zufol­ge braucht es Erfol­ge — oder Schul­di­ge an der Katastro­phe. Sollte Putin nicht schnell etwas präsen­tie­ren, droht er laut Einschät­zung einiger Exper­ten, womög­lich selbst zum Sünden­bock zu werden.

Von André Ballin und Andre­as Stein, dpa