MOSKAU (dpa) — Zu neun Jahren Haft war Kreml­geg­ner Alexej Nawal­ny in Russland bereits verur­teilt. Nun wurde direkt im Straf­la­ger ein weite­res Urteil gespro­chen, das ihn für viele weite­re Jahre mundtot machen soll.

Ein russi­sches Gericht hat den bereits inhaf­tier­ten Kreml­geg­ner Alexej Nawal­ny zu einer neuen Haftstra­fe von insge­samt 19 Jahren Straf­la­ger verur­teilt. Die Strafe gegen den 47-Jähri­gen erging am Freitag in einem inter­na­tio­nal als politi­sche Insze­nie­rung kriti­sier­ten Prozess in dem Straf­la­ger, in dem Nawal­ny derzeit inhaf­tiert ist. Er war wegen angeb­li­chen Extre­mis­mus angeklagt worden.

Das Straf­maß schließt das bishe­ri­ge Urteil von neun Jahren Straf­la­ger mit ein, wie russi­sche Medien überein­stim­mend berich­te­ten. Schluss­end­lich werde gegen Nawal­ny eine Freiheits­stra­fe von 19 Jahren angesetzt, sagte Richter Andrej Suworow der russi­schen Agentur Inter­fax zufolge.

Nawal­nys Spreche­rin Kira Jarmysch hatte auf Nachfra­ge der Deutschen Presse-Agentur ebenfalls erklärt, dass mit dem Urteil die Gesamt­län­ge der Haftdau­er gemeint sein sollte. Es bleibe aber das schrift­li­che Urteil abzuwar­ten, sagte sie am Freitag. Nawal­ny sei zu Straf­la­ger mit einem «beson­de­ren Regime» verur­teilt worden, was noch einmal härte­re Haftbe­din­gun­gen bedeu­te als bisher.

Straf­maß war erwar­tet worden

Nawal­ny gilt als politi­scher Gefan­ge­ner. Der schärfs­te Gegner von Kreml­chef Wladi­mir Putin nahm das Urteil im Stehen gelas­sen und kämpfe­risch auf. Er hatte das Straf­maß erwar­tet. Die Staats­an­walt­schaft hatte 20 Jahre Haft beantragt. Nawal­nys Team meinte, Putin selbst habe das Straf­maß am Ende festge­legt. In Freiheit komme der Kreml­geg­ner erst, wenn Putin nicht mehr an der Macht sei. Sie erwar­ten neue Prozesse.

Nawal­ny selbst appel­lier­te nach seiner Verur­tei­lung an den Mut der Russen zum Wider­stand gegen Putin. Dieser sollte seine Ziele nicht errei­chen. «Verliert nicht den Willen zum Wider­stand.» Mit bBlick auf das Straf­maß sagte er: «Die Zahl spielt keine Rolle. Ich verste­he sehr gut, dass ich, wie viele politi­sche Gefan­ge­ne, eine lebens­lan­ge Haftstra­fe verbü­ße», sagte er. Lebens­lang bezie­he sich dabei entwe­der auf die Dauer seines eigenen Lebens oder die «Lebens­dau­er dieses Regimes».

Der UN-Hochkom­mis­sar für Menschen­rech­te, Volker Türk, kriti­sier­te das Urteil scharf und forder­te die Freilas­sung Nawal­nys. Es gebe «erneut Anlass zu ernster Besorg­nis über die Schika­nen der Justiz und die Instru­men­ta­li­sie­rung des Gerichts­sys­tems für politi­sche Zwecke in Russland», teilte er in Genf mit. Das Recht auf freie Meinungs­äu­ße­rung werde zuneh­mend unterdrückt.

Nawal­ny will Kampf nicht aufgeben

Nawal­nys Team kommen­tier­te die Übertra­gung des Prozes­ses aus dem im Straf­la­ger einge­rich­te­ten Gerichts­saal: Russlands Opposi­ti­ons­füh­rer sei wie ein «König» lächelnd ohne Fesseln allein in den Saal gekom­men. Er werde seinen Kampf gegen das System Putin auch im Lager nicht aufge­ben, meinten seine Mitar­bei­ter, die sich im Exil in der EU aufhal­ten, bei der Livesen­dung bei Youtube. Sein Bruder Oleg Nawal­ny, der selbst schon inhaf­tiert gewesen war, sagte dass Alexej in guter «morali­scher und physi­scher Verfas­sung» sei.

Seine Unter­stüt­zer kriti­sie­ren zudem, dass der Prozess nicht vor dem Moskau­er Stadt­ge­richt, sondern direkt in Nawal­nys Straf­ko­lo­nie im 260 Kilome­ter von Moskau entfern­ten Melecho­wo abgehal­ten wird. Dort versam­mel­ten sich verein­zelt Aktivis­ten, um den Opposi­ti­ons­füh­rer zu unter­stüt­zen. Einige beklag­ten in Videos, die bei Telegram veröf­fent­licht wurden, die Ungerech­tig­keit der russi­schen Justiz. Nawal­ny wird nach Berich­ten seines Teams durch unmensch­li­che Haftbe­din­gen und Dauer­iso­la­ti­on gefoltert.

«Es wird eine riesi­ge Haftstra­fe werden. Das, was man als «stali­nis­ti­sche Haftstra­fe» bezeich­net», hatte Nawal­ny selbst am Donners­tag über sein Team in sozia­len Netzwer­ken ausrich­ten lassen. Unter Sowjet­dik­ta­tor Josef Stalin (1879–1953) waren zu kommu­nis­ti­schen Zeiten sehr lange und harte Strafen üblich.

Nawal­ny: Urteil soll einschüchtern

Das neue Urteil gegen ihn diene der gesell­schaft­li­chen Einschüch­te­rung, schrieb Nawal­ny vorab. Es solle die kriti­schen Teile der russi­schen Bevöl­ke­rung davon abhal­ten, sich öffent­lich gegen Putin und Russlands Krieg in der Ukrai­ne zu stellen. Er bat auch um Solida­ri­tät mit politi­schen Gefan­ge­nen. Schon in seinem Schluss­wort vor zwei Wochen hatte der Opposi­ti­ons­po­li­ti­ker dazu aufge­ru­fen, gegen das «gewis­sen­lo­se Böse, das sich selbst «Staats­macht der Russi­schen Födera­ti­on» nennt», zu kämpfen.

Menschen­recht­ler weisen immer wieder auf die angeschla­ge­ne Gesund­heit Nawal­nys hin, der im Sommer 2020 nur knapp einen Nerven­gift­an­schlag überleb­te. Nawal­ny wirft dem russi­schen Inlands­ge­heim­dienst FSB und Präsi­dent Wladi­mir Putin vor, hinter dem Mordan­schlag vor drei Jahren zu stecken. Der Kreml demen­tiert das. Nach einer Behand­lung in Deutsch­land kehrte Nawal­ny damals in seine Heimat zurück. Noch am Flugha­fen wurde er festgenommen.

Außen­mi­nis­te­rin Annale­na Baerbock bezeich­ne­te die neue Strafe gegen Nawal­ny als «blankes Unrecht». «Putin fürch­tet nichts mehr als Eintre­ten gegen Krieg & Korrup­ti­on und für Demokra­tie — selbst aus der Gefäng­nis­zel­le heraus», schrieb sie auf Twitter. «Er wird damit kriti­sche Stimmen nicht zum Schwei­gen bringen.» Aus den USA kam ebenfalls schar­fe Kritik: «Dies ist ein ungerech­ter Abschluss eines ungerech­ten Prozes­ses», teilte das Außen­mi­nis­te­ri­um in Washing­ton mit.

Brüssel kriti­siert Missach­tung der Menschenrechte

Auch aus Brüssel kam am Freitag deutli­che Kritik. Die Europäi­sche Union verur­tei­le den Schuld­spruch scharf, teilte ein Sprecher des EU-Außen­be­auf­trag­ten Josep Borrell mit. Die EU bedaue­re außer­dem zutiefst, dass die Gerichts­ver­hand­lun­gen unter Ausschluss der Öffent­lich­keit statt­ge­fun­den hätten. «Herr Nawal­ny ist ein weite­res Beispiel für das anhal­ten­de syste­ma­ti­sche Vorge­hen der russi­schen Behör­den und ihre Missach­tung der Menschen­rech­te ihrer eigenen Bürger», hieß es. EU-Ratsprä­si­dent Charles Michel schrieb auf Twitter, das neues­te Urteil in einem weite­ren Schein­pro­zess sei inakzep­ta­bel. «Ich bekräf­ti­ge die Forde­rung der EU nach der sofor­ti­gen und bedin­gungs­lo­sen Freilas­sung von Herrn Nawalny.»

Russland führt seit mittler­wei­le mehr als 17 Monaten einen Angriffs­krieg gegen das Nachbar­land Ukrai­ne. In diesem Zeitraum hat die russi­sche Führung auch im eigenen Land Repres­sio­nen gegen Kriti­ker massiv verstärkt. Neben Nawal­ny sind in russi­schen Straf­la­gern noch zahlrei­che weite­re Opposi­tio­nel­le inhaf­tiert, die inter­na­tio­nal als politi­sche Gefan­ge­ne einge­stuft werden. Erst vor wenigen Tagen etwa wurde gegen Wladi­mir Kara-Mursa das harte Urteil von 25 Jahren Straf­la­ger­haft bestä­tigt. Es ist die bisher höchs­te Haftstra­fe gegen einen Regie­rungs­kri­ti­ker in Russland.

Von Ulf Mauder und Hannah Wagner, dpa