Bei den Aufräum­ar­bei­ten nach der verhee­ren­den Explo­si­on von Beirut fühlen sich die Menschen im Libanon allein gelas­sen. Eine Protest­kund­ge­bung gegen die Regie­rung hat daher ein klares Motto.

Die Menschen versam­mel­ten sich zu einer Trauer- und Protest­kund­ge­bung auf dem Märty­rer-Platz im Zentrum Beiruts. Am Rande der Demons­tra­ti­on kam es zu Zusam­men­stö­ßen mit Sicher­heits­kräf­ten. Nach Angaben des Roten Kreuzes wurden 130 Menschen verletzt.

Einige Demons­tran­ten versuch­ten Absper­run­gen zum Parla­ment zu durch­bre­chen. Sie warfen Steine, wie auf Bildern des libane­si­schen Senders MTV zu sehen war. Die Sicher­heits­kräf­te wieder­um setzen massiv Tränen­gas ein, um die Demons­tran­ten zu vertreiben.

Viele Libane­sen machen die politi­sche Führung des kleinen Landes am Mittel­meer für die schwe­re Explo­si­on verant­wort­lich. Die Zahl der Toten stieg auf 158, wie das Gesund­heits­mi­nis­te­ri­um am Samstag mitteil­te. Die Zahl der Verletz­ten kletter­te demnach auf rund 6000.

Das Motto der Protest­kund­ge­bung laute­te «Gerech­tig­keit für die Opfer, Rache an der Regie­rung». Die Demons­tran­ten riefen unter anderem «Revolu­ti­on, Revolu­ti­on» und «Das Volk will den Sturz des Regimes». «Der Aufstand und die Revolu­ti­on gehen weiter», sagte einer der Demons­tran­ten dem Sender MTV. Präsi­dent Micha­el Aoun, Regie­rungs­chef Hassan Diab und die gesam­te politi­sche Führungs­spit­ze seien für die Detona­ti­on verantwortlich.

Bereits im vergan­ge­nen Oktober hatten Massen­pro­tes­te gegen die Regie­rung begon­nen. Die Demons­tran­ten fordern weitge­hen­de politi­sche Refor­men. Sie werfen der politi­schen Elite Korrup­ti­on vor und beschul­di­gen sie, das Land rücksichts­los auszuplündern.

Die Wut ist auch deswe­gen so groß, weil offen­bar über Jahre große Mengen der hochex­plo­si­ven Chemi­ka­lie Ammoni­um­ni­trat ohne Sicher­heits­vor­keh­run­gen im Hafen lager­ten. Dies soll die gewal­ti­ge Explo­si­on verur­sacht haben. Warnun­gen wurden Berich­ten zufol­ge in den Wind geschla­gen. Am Freitag­abend ordne­te ein Richter die Festnah­me von drei leiten­den Hafen-Mitar­bei­tern an, darun­ter den Direk­tor und den Chef des Zolls.

Bei den Aufräum­ar­bei­ten nach der Explo­si­ons­ka­ta­stro­phe fühlen sich viele Libane­sen von der Regie­rung im Stich gelas­sen. Gleich­zei­tig zeigen sie unter­ein­an­der große Solida­ri­tät. In den stark zerstör­ten Vierteln rund um den Hafen waren auch am Samstag Dutzen­de freiwil­li­ge Helfer im Einsatz.

Im Hafen gingen die Bergungs­ar­bei­ten weiter. Rettungs­hel­fer bargen 25 Leichen aus den Trümmern. Einem Sprecher des Gesund­heits­mi­nis­te­ri­ums zufol­ge werden noch immer rund 45 Menschen vermisst, überwie­gend Hafenarbeiter.

Am Hafen und den umlie­gen­den Vierteln bringen Freiwil­li­ge derweil Essen und Geträn­ke. Wie der junge Pfadfin­der Alessio Zughaib, der an einem Tisch vor einem Kranken­haus Wasser und Äpfel verteilt. «Wir, die Menschen des Libanons, schaf­fen den Schutt weg, nicht die Regierung.»

Beson­ders schlimm erwischt hat es das Viertel Mar Michail, bekannt für seine guten Restau­rants, Bars und Galerien. Jetzt sieht es hier aus, als wäre ein Hurri­kan hindurch­ge­fegt — an ein fröhli­ches, ausge­las­se­nes Nacht­le­ben ist nicht mehr zu denken. Scher­ben bedecken die Straßen, Strom­lei­tun­gen hängen herun­ter, zerstör­te Möbel stehen herum. Viele der alten, tradi­tio­nel­len Häuser sind stark zerstört.

«Es bricht einem das Herz, diese Verwüs­tung zu sehen», sagt der Archi­tekt George Duwaihi, der in einer Straße steht. Er sei als Freiwil­li­ger hier. «Ich biete meine Exper­ti­se an, um diese wunder­schö­nen alten Häuser, die nach der Explo­si­on vom Einsturz bedroht sind, zu renovie­ren. Sie sind Teil unseres Erbes.»

Ganz in der Nähe, im ebenfalls belieb­ten Ausgeh­vier­tel Dschem­mais­eh, sind Freiwil­li­ge mit Boxen unter­wegs und vertei­len Manakisch, eine Art libane­si­sche Pizza. «Wir sammeln Geld und kaufen Essen für die Freiwil­li­gen, die die Häuser und Straße reini­gen», erzählt Silina Jamut, die aus der Küsten­stadt Tyre angereist ist.

In Dschem­maisah hat auch die Nonne Nicola al-Akiki die vielleicht schlimms­ten Tage ihres Leben durch­ma­chen müssen. Sie ist Leite­rin des Wardiah-Kranken­hau­ses, nur rund 500 Meter vom Ort der Explo­si­on entfernt. «Junge Freiwil­li­ge haben unsere Klinik vom Schutt befreit und gerei­nigt», sagt die Frau, die einst acht Monate in Köln lebte. «Sie sind Engel. Alle Libane­sen helfen sich gegenseitig.»

Seit Monaten leidet das Land unter der vielleicht schwers­ten Wirtschafts- und Finanz­kri­se seiner Geschich­te. Die Corona-Pande­mie verschärf­te die Lage weiter. Die Infla­ti­on ist explo­diert. Viele Libane­sen wissen kaum noch, wie sie ihre Famili­en ernäh­ren sollen. Die Explo­si­on treibt das Land endgül­tig an den Rand des Abgrunds.

Die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft will den Libanon unter­stüt­zen. EU-Ratsprä­si­dent Charles Michel traf zu Gesprä­chen mit Staats­chef Aoun und anderen Spitzen­po­li­ti­kern ein, wie der libane­si­sche Präsi­den­ten­pa­last mitteil­te. Der Libanon könne sich auf die Solida­ri­tät der EU verlas­sen, twitter­te Michel, der auch den Hafen besucht hatte. «Nicht nur in Worten, sondern auch in konkre­ten Handlun­gen für das libane­si­sche Volk.»

Am Sonntag soll die von Frank­reichs Präsi­dent Emmanu­el Macron angekün­dig­te inter­na­tio­na­le Konfe­renz zur Hilfe für den krisen­er­schüt­ter­ten Libanon statt­fin­den — per Video­schal­te. Bei seinem Besuch am Donners­tag in Beirut hatte Macron jedoch deutlich gemacht, dass er von der Regie­rung grund­le­gen­de Refor­men fordert.