GÜTERSLOH/BERLIN (dpa) — Allein­er­zie­hen­de können trotz Arbeit für sich und ihre Kinder oft keine gesicher­te Existenz schaf­fen. Klagen über weit verbrei­te­te Kinder­ar­mut nehmen zu — und der Ruf nach Umsteu­ern wird lauter.

Allein­er­zie­hen­de und ihre Kinder sind einer neuen Studie zufol­ge deutlich überpro­por­tio­nal von finan­zi­el­ler Armut bedroht.

Knapp 43 Prozent aller Ein-Eltern-Famili­en gelten als einkom­mens­arm, wie aus der am Donners­tag veröf­fent­lich­ten Erhebung für die Bertels­mann Stiftung hervor­geht. Der Deutsche Gewerk­schafts­bund (DGB), Sozial­ver­bän­de und die Linken forder­ten, politisch stärker gegen Kinder­ar­mut anzusteuern.

Von den Paar-Famili­en mit einem Kind gelten nur 9 Prozent als einkom­mens­arm. Mit zwei Kindern trifft es 11 Prozent. Obwohl Allein­er­zie­hen­de in den meisten Fällen erwerbs­tä­tig sind, können sie demnach trotz­dem mit ihrem Einkom­men für sich und ihre Kinder häufig nicht das Existenz­mi­ni­mum sichern.

Das Armuts­ri­si­ko für Allein­er­zie­hen­de — zu 88 Prozent sind es Frauen — und ihre Kinder verhar­re auf hohem Niveau, betont Studi­en­au­to­rin Anne Lenze von der Hochschu­le Darmstadt. 2020 bezogen rund 34 Prozent der allein­er­zie­hen­den Famili­en Grund­si­che­rung nach SGB II (Hartz IV). Ihr Anteil liege damit fast fünfmal höher als bei Paar-Familien.

Laut Paritä­ti­schem Wohlfahrts­ver­band sind Kinder und Jugend­li­che in erheb­li­chem Ausmaß von Armut betrof­fen. Binnen zehn Jahren sei die Armuts­quo­te Heran­wach­sen­der von 18,2 auf 20,5 Prozent (2019) geklet­tert — mit nun rund 2,8 Millio­nen betrof­fe­nen Minder­jäh­ri­gen. «Es ist beschä­mend und erschüt­ternd, wie sich Kinder­ar­mut in diesem reichen Land verschärft und verhär­tet», sagt Joachim Rock von der Forschungs­stel­le. Beson­de­res «hart und heftig» treffe es neben allein­er­zie­hen­den auch kinder­rei­chen Familien.

Armut trotz Arbeit

Die Reali­tät heißt laut Bertels­mann Stiftung nicht selten: Arm trotz Arbeit. Unter allein­er­zie­hen­den Müttern sind 71 Prozent berufs­tä­tig, fast die Hälfte arbei­tet in Vollzeit oder vollzeit­nah. Unter den allein­er­zie­hen­den SGB II-Bezie­hern sind 40 Prozent erwerbs­tä­tig — kämen also ohne ein «Aufsto­cken» nicht über die Runden. Die Studie stellt Daten zur relati­ven Einkom­mens­ar­mut von 2019 und zum SGB II-Bezug von 2020 neben­ein­an­der — es hande­le sich um die jeweils aktuells­ten Zahlen. Nach gängi­ger Defini­ti­on gelten Menschen als armuts­ge­fähr­det, die über weniger als 60 Prozent des mittle­ren Einkom­mens aller Haushal­te verfü­gen. Die Grenze lag 2019 für eine Allein­er­zie­hen­de mit einem Kind bei 1396 Euro.

Lenze sieht politi­sche Bewegung, es brauche aber mehr Refor­men. Immer­hin leben inzwi­schen 2,2 Millio­nen Kinder und Jugend­li­che — gut 16 Prozent aller Minder­jäh­ri­gen — in einer Ein-Eltern-Familie — Tendenz steigend. Und nahezu die Hälfte — 45 Prozent — aller Kinder im SGB II-Bezug wachse bei allein­er­zie­hen­den Famili­en auf, die unter allen Famili­en nicht einmal ein Fünftel ausmach­ten. 2019 gab es 1,52 Millio­nen Ein-Eltern-Famili­en mit minder­jäh­ri­gen Kindern.

Der DGB zeigte sich alarmiert. «Es ist eine Schan­de, dass Armut im reichen Deutsch­land immer noch ein solches Ausmaß hat», sagte DGB-Vize Elke Hannack. Für Gering­ver­die­nen­de und Allein­er­zie­hen­de forder­te Hannack eine arbeit­neh­mer­ori­en­tier­te Kinder­grund­si­che­rung. Bestehen­de Leistun­gen müssten sinnvoll zusam­men­ge­fasst werden. Der Präsi­dent des Sozial­ver­band Deutsch­land, Adolf Bauer, sagte: «Um die Situa­ti­on von Allein­er­zie­hen­den zu verbes­sern, ist die Verfüg­bar­keit eines angemes­se­nen und quali­ta­tiv hochwer­ti­gen Betreu­ungs­an­ge­bots für Kinder unter drei Jahren, das Kinder­gar­ten­al­ter und für Schul­kin­der eine wichti­ge Voraussetzung.»

Verbän­de sehen Staat in der Pflicht

Linke-Chefin Susan­ne Hennig-Wellsow sagte: «Die größte Hilfe für allein­er­zie­hen­de Eltern ist, wenn der Armuts­druck von den Kindern genom­men wird.» In einem reichen Land sei Kinder­ar­mut unter­las­se­ne Hilfe­leis­tung. Per Kinder­grund­si­che­rung sollten Kinder bis 18 je nach Alter 328 bis 630 Euro erhalten.

Lenze erläu­tert, man habe die SGB II-Quoten zwar senken können, beson­ders in Ostdeutsch­land. Im Westen sei die Quote aber etwa in Bremen (62,4 Prozent) sowie Berlin und NRW mit rund 43 Prozent sehr hoch. Und: «Die relati­ve Armut ist nicht gesun­ken, die Allein­er­zie­hen­den und ihre Kinder sind trotz­dem arm geblieben.»

Der Verband allein­er­zie­hen­der Mütter und Väter beobach­tet seit Corona zudem verstärkt Existenz­ängs­te. Häufig seien allein­er­zie­hen­de Mütter im Niedrig­lohn­sek­tor tätig, schil­dert VAMV-Chefin Danie­la Jaspers. «Verdienst­aus­fäl­le hauen da voll rein. Rückla­gen haben Allein­er­zie­hen­de meist nicht.»

Die Allein­er­zie­hen­de Nina aus Düssel­dorf arbei­tet 28 Wochen­stun­den im Einzel­han­del, verdient netto 990 Euro. Das reicht nicht für sie, ihren Sohn (8) und die Tochter (19). Als SGB II-«Aufstockerin» erhal­te sie im Schnitt 800 Euro pro Monat, erzählt die 41-Jähri­ge. Fürs Homeschoo­ling habe sie monate­lang auf einen Laptop gespart. «Dafür mussten wir ganz schön bluten.» Da der Ex-Partner keinen Unter­halt zahlt, will sie für den Sohn einen staat­li­chen Unter­halts­vor­schuss beantra­gen. «Um an Unter­stüt­zungs­leis­tun­gen zu kommen, ist aber immer viel Bürokra­tie erforderlich.»

In der Pande­mie seien Bezie­her niedri­ger Einkom­men beson­ders von Einbu­ßen betrof­fen, sagt Antje Funcke von der Stiftung. Zahlrei­che Minijobs seien wegge­fal­len, auch das spürten Allein­er­zie­hen­de stark. Viele fordern ein Teilha­be­geld für Kinder, was ihnen ein gutes Aufwach­sen sichern und dafür alle finan­zi­el­len Leistun­gen bündeln soll. Lenze rechnet in der nächs­ten Legis­la­tur mit einem Einstieg in eine solche Kindergrundsicherung.

Über eine Social-Media-Kampa­gne «#Stoppt­Kin­der­ar­mut» der Stiftung melde­ten sich viele Kinder und Jugend­li­che, sagt Funcke. Sie berich­te­ten über Ausgren­zung, Verzicht, Scham, wie erschöpft ihre allein­er­zie­hen­den Mütter seien, im Bemühen, ihnen eine gute Kindheit zu ermög­li­chen — «und wie schwie­rig das für sie auszu­hal­ten war.»

Von Yuriko Wahl-Immel, dpa