KIEW (dpa) — An ihr kurzes Leben als Flücht­lings­fa­mi­lie in Stutt­gart erinnert sich die Ukrai­ne­rin Maria mit ihrem Sohn Artem in ihrer Zwei-Raum-Wohnung in Kiew mit gemisch­ten Gefüh­len. Der Neunjäh­ri­ge habe dort Schwim­men gelernt, sei als Fußball-Fan beim VfB gewesen und habe das Merce­des-Benz-Museum besucht — das werde sie nie verges­sen, sagt die 33-Jähri­ge der Deutschen Presse-Agentur bei einem Treffen. Sie zeigt zufrie­den Videos auf dem Handy. Aber klar wird schnell auch, dass zuhau­se trotz Krieg alles vertrau­ter ist.

Vor allem sei es aus Deutsch­land schwer gewesen, zu ihrem Mann Artem, der als Vertei­di­ger blieb, Kontakt zu halten. «In Deutsch­land ist es nicht so wie bei uns, dass man günsti­ge Flatrates und praktisch überall Inter­net hat», erinnert sich die Verwal­tungs­an­ge­stell­te. Ihr Sohn erzählt, ihm habe gefal­len, dass es anders als in Kiew ein Leben ohne Luftalarm gibt und die Schüler in den Pausen auf den Hof dürfen. In Deutsch­land hat Maria, wie sie erzählt, die Bürokra­tie etwas überrascht: «Wir streben in die Europäi­sche Union, und mir schien immer, dass bei uns die Amtssa­chen lange dauern.»

In ihrem Zuhau­se in Kiew sind aber auch die Erinne­run­gen an den Kriegs­be­ginn vor einem Jahr am 24. Febru­ar leben­dig. «Ich bin aufge­wacht, weil ich gegen fünf Uhr morgens den Lärm eines Kampf­jets hörte», sagt sie. Ihr Mann Artem saß vor dem Fernse­her und sagte: «Der Krieg hat begon­nen.» Weil sich Staus bilde­ten durch die vielen Flüch­ten­den entschie­den sie sich aber, erst einmal in Kiew zu bleiben.

«Dann haben wir fast nicht mehr geschla­fen, die Luftalarm­si­re­ne war ständig zu hören, von den nahen Raketen­ein­schlä­gen wackel­te das ganze Haus», beschreibt Maria die Situa­ti­on. Zwei Nächte verbrach­ten sie mit vielen anderen Menschen im feuch­ten und kalten Keller. «Du kannst nicht essen, nicht schla­fen, nichts mehr machen.» Maria entschloss sich, mit dem Sohn zu Verwand­ten in die Westukrai­ne im Gebiet Iwano-Frankiwsk zu fliehen.

Der Abschied von Ehemann und Vater Artem fiel beiden schwer. «Uns war nicht klar, wann wir uns wieder­se­hen und ob wir uns überhaupt wieder­se­hen.» Auf dem Bahnhof in Kiew spiel­ten sich dabei drama­ti­sche Szenen ab — Gedrän­ge, Menschen mit Gepäck und Haustie­ren, schrei­en­de Kinder, Abschieds­trä­nen. Nach Stutt­gart kamen sie dann im März 2022, weil eine Tante dort sie einlud. «In Deutsch­land hatten wir das erste Mal das Gefühl, dass die Anspan­nung abfiel.» Sie blieben drei Monate.

Dann kam die Nachricht, dass ihr Mann in die Ostukrai­ne versetzt werde. Maria und Sohn Artem kehrten nach Kiew zurück, um ihn noch einmal zu sehen. Und sie blieben trotz des weiter harten Alltags mit Luftalar­men und gelegent­li­chen Angrif­fen. Maria sieht es als ihren Beitrag für ihr Land, ihrem Mann von Kiew aus beizu­ste­hen. Die Verlus­te der ukrai­ni­schen Einhei­ten seien «schreck­lich», sagt sie. «Doch er wird bis zum Sieg bei der Armee bleiben.»