BERLIN/LUBMIN (dpa) — Turbo beim LNG, Bremse beim Wind? Wer in Deutsch­land ein Windrad plant, muss erstmal ein Jahr lang Zug- und Brutvö­gel zählen. Und dann kommt noch einiges mehr. «Deutsch­land-Tempo» geht anders.

Die Dinger sind gigan­tisch. 138 Meter hoch, mit freiem Blick übers flache Land. Auf der einen Seite liegen die grünen Felder Richtung Branden­burg, auf der anderen Seite das Häuser­mo­sa­ik der Haupt­stadt. «Pyro» nennen die Planer des Ingenieur­bü­ros Teut das Gelän­de einer alten Feuer­werks­fir­ma in Berlin-Pankow, wo sich ihre beiden Windrä­der drehen — zwei von insge­samt sechs auf Berli­ner Boden. Vier Jahre hat es gedau­ert, bis die Anlagen standen. Und nach Lage der Dinge war das noch ziemlich fix.

Zum 1. Febru­ar greift ein neues Gesetz, das vor allem die Planung von Windkraft­an­la­gen beschleu­ni­gen soll. Wieder eins, könnte man sagen — «Deutsch­land-Tempo» heißt nun das Mantra. Beim Ausbau der Erneu­er­ba­ren Energien ist ein Turbo tatsäch­lich dringend nötig, will man die ambitio­nier­ten Ziele für grünen Strom bis 2030 schaf­fen. Allein die Windkraft an Land soll sich von 58 Gigawatt im Jahr 2022 auf 115 Gigawatt bis 2030 verdop­peln. Das sind noch sieben Jahre.

Als leuch­ten­des Beispiel gilt der Aufbau der Flüssig­gas-Termi­nals an der Küste seit Beginn des Ukrai­ne-Kriegs. Geht doch, hieß es, als jetzt die ersten LNG-Lande­punk­te nach nur wenigen Monaten in Betrieb gingen. Jetzt bitte einfach dassel­be bei Wind und Solar. Aber ist das möglich? Was half bei LNG und was steht bei Erneu­er­ba­ren im Weg?

Doch, doch, im Grunde macht die Energie­wen­de Spaß

Ingenieur Elias Brunken und Umwelt­pla­ner Daniel Deppe haben dazu einiges zu erzäh­len. Die beiden jungen Planer sind Überzeu­gungs­tä­ter in Sachen Ökostrom. Bei Teut arbei­ten sie daran, in Berlin und Branden­burg Windrä­der ans Netz zu bekom­men. Und sie versi­chern: doch, doch, im Grunde mache das wirklich großen Spaß mit der Energie­wen­de. «Extrem, ich mache das richtig gerne», sagt Deppe. Nur: «Man muss schon Bock haben auf Disku­tie­ren und ein dickes Fell.»

Also, mal angenom­men man hat ein großes Grund­stück in Branden­burg — oder anders­wo, es ist ja nur ein Beispiel — und möchte ein Windrad bauen, was muss man tun? Brunken und Deppe holen tief Luft.

Windkraft geht natür­lich sowie­so nur im «Eignungs­ge­biet» bezie­hungs­wei­se im «Vorrang­ge­biet». Der Bund hat die Länder gerade gesetz­lich verpflich­tet, dafür schritt­wei­se bis 2032 mindes­tens zwei Prozent ihrer Fläche auszu­wei­sen. Aber obwohl diese Areale eigens für den Zweck gedacht sind, beginnt bei jedem Windrad die Prüfung neu. Ist der Stand­ort weit genug weg von Wohnhäu­sern? Groß genug für eine 250 Meter hohe Anlage mit 85 Meter langen Rotor­blät­tern? Alle Eigen­tums- und Nutzungs­rech­te geklärt? Dann kann es losge­hen mit der Kartierung.

Eiswurf, Schall, Schattenwurf

Dabei werden Bioto­pe, Fleder­mäu­se, Brut- und Zugvö­gel gezählt, und da die Vögel zu unter­schied­li­chen Jahres­zei­ten vorbei schau­en, dauert das logischer­wei­se mindes­tens ein ganzes Jahr. Dann kommen die Gutach­ten. Stand­si­cher­heit, Brand­schutz, Eiswurf, Schall, Schat­ten­wurf. Das fließt alles in den Geneh­mi­gungs­an­trag. Derzeit sind das nach Angaben der Planer in der Regel vier Akten­ord­ner und zwölf Daten-CDs, die an 16 verschie­de­ne Stellen gehen — Landkreis, Natur­schutz­be­hör­de, Denkmal­schutz­be­hör­de und so weiter.

Für die Bearbei­tung brauchen die Behör­den, wenn alles glatt läuft, etwa ein bis einein­halb Jahre, so erzäh­len es Brunken und Deppe. Geht es um mehre­re Windrä­der, ist meist eine Umwelt­ver­träg­lich­keits­prü­fung nötig. Ist das der Fall, zieht sich das Verfah­ren nach Daten der Fachagen­tur Wind im Schnitt 24 Monate. Die Geneh­mi­gung ist für die Planer dann ein großes Ding. In ihrem Bespre­chungs­raum im Keller stehen zur Feier Sektfla­schen bereit, jeweils eine mit dem Kürzel der Anlage. Im Moment warten da MÜRIII, NKD1 und NKD2.

Negativ­re­kord: 18 Jahre

Aber damit ist noch nicht Schluss. Nun folgt erstmal die Ausschrei­bung. Windkraft­an­bie­ter bewer­ben sich um Mengen im Rahmen der Ausbau­zie­le und müssen dabei einen von der Bundes­netz­agen­tur vorge­ge­be­nen Preis­de­ckel einhal­ten. Es gewinnt der Bewer­ber mit dem niedrigs­ten Preis. Ist auch diese Hürde genom­men, wird das Windrad bestellt. Liefer­zeit ist nach Angaben der Ingenieu­re im Moment rund 18 Monate, Materi­al­man­gel und hohe Stahl­prei­se schla­gen auch hier durch.

Läuft also wirklich alles wie am Schnür­chen, sind schon mehr als vier Jahre ins Land gegan­gen, bevor sich der erste Tiefla­der mit den Riesen­flü­geln zum Bauplatz der neuen Windmüh­le in Gang setzt — auch das natür­lich nicht ohne Geneh­mi­gung. Voraus­set­zung ist, dass niemand Einspruch erhebt, niemand klagt, die Behör­de nicht überlas­tet ist und sich das vor Jahren erson­ne­ne Projekt zum Zeitpunkt x noch rechnet. Statis­tisch dauert der Bau einer Windkraft­an­la­ge heute im Schnitt fünf bis sieben Jahre. Der Negativ­re­kord liegt bei 18 Jahren.

Der Kanzler dreht den Gashahn auf

Und bei LNG, dem seit Beginn des Ukrai­ne-Kriegs so begehr­ten und aus aller Welt impor­tier­ten Flüssig­gas? Als Bundes­kanz­ler Olaf Scholz Mitte Januar symbo­lisch den Gashahn am Flüssig­erd­gas-Termi­nal in Lubmin an der Ostsee aufdreh­te, war seit dem ersten Antrag des Unter­neh­mens Deutsche Regas gerade mal ein halbes Jahr vergan­gen. «Das ist Rekord­tem­po», sagt Jan Bonha­ge von der Kanzlei Henge­ler Mueller, die das Projekt betreut. Norma­ler­wei­se hätte man gern auch mit zwei bis fünf Jahren rechnen können.

Zustan­de kam das neue «Deutsch­land-Tempo» unter dem Druck der Gaskri­se und des Horror­sze­na­ri­os, dass Millio­nen Bürger im Winter in eiskal­ten Wohnun­gen frieren müssten. Auch hier gab es ein eigenes Beschleu­ni­gungs­ge­setz, das LNGG. Aber was genau befeu­er­te den Turbo? Bonha­ge hält fünf Punkte für entscheidend.

Fünf Punkte für den Planungsturbo

Als erstes nennt der Fachan­walt die Festle­gung, dass ein überra­gen­des öffent­li­ches Inter­es­se an den Termi­nals bestehe. «Das darf man nicht unter­schät­zen», sagt der Fachmann. Das spiele eine wichti­ge Rolle, wenn eine Behör­de so oder anders entschei­den könne und Inter­es­sen abzuwä­gen habe. Das «überra­gen­de öffent­li­che Inter­es­se» steht inzwi­schen auch im Erneu­er­ba­re-Energien-Gesetz, die Ausle­gung auf Landes­ebe­ne ist aber nach Angaben der Planer nicht überall eindeutig.

Zweiter Punkt laut Bonha­ge: verkürz­te Fristen etwa bei der öffent­li­chen Betei­li­gung. Statt ein Monat Ausle­gung der Pläne und ein Monat Einwen­dungs­frist gilt hier jeweils eine Woche. Der dritte Faktor ist für den Fachmann der Verzicht auf eine Umwelt­ver­träg­lich­keits­prü­fung. Umwelt- und Natur­schutz­recht seien trotz­dem einzu­hal­ten, versi­chert er. Nur falle ein langwie­ri­ges zusätz­li­ches Verfah­ren weg.

Punkt vier: Wenn Gegner des Projekts Wider­spruch erheben oder klagen, hat das keine aufschie­ben­de Wirkung. «Also wenn Sie die Geneh­mi­gung bekom­men, dürfen Sie sofort losle­gen», erklärt Bonha­ge. Fünftens erleich­te­re das Gesetz den vorzei­ti­gen Beginn von Bauvor­be­rei­tung oder eines Testbetriebs.

«Beschlüs­se reichen für die Ziele nicht aus»

Dieser Fünf-Punkte-Katalog entspricht ziemlich genau dem, was sich auch Windkraft­pla­ner wünschen. Aber die Reali­tät ist davon ein Stück entfernt. «Die bisher von der Ampel-Koali­ti­on beschlos­se­nen Maßnah­men gehen zwar in die richti­ge Richtung», sagt Simon Müller, Deutsch­land-Direk­tor der Denkfa­brik Agora Energie­wen­de. «Aber sie reichen selbst in der Summe nicht aus, um die Verfah­ren in dem Maße zu beschleu­ni­gen, wie es für die 2030-Zieler­rei­chung notwen­dig ist.»

Das zum 1. Febru­ar kommen­de Beschleu­ni­gungs­ge­setz ist aus Müllers Sicht nur ein kleiner Schritt. Damit würden Planungs­ver­fah­ren «etwas weniger anfäl­lig gegen Klagen», sagt der Exper­te. Größe­re Erwar­tun­gen hat er an eine EU-Notver­ord­nung vom Dezem­ber: «Sie sagt im Wesent­li­chen: Liegt für die Fläche eines Windparks eine strate­gi­sche Umwelt­ver­träg­lich­keits­prü­fung vor, auch mit Blick auf den Arten­schutz, dann muss sie nicht mehr zusätz­lich für jedes einzel­ne Windrad wieder­holt werden. Das hat Poten­zi­al für eine erheb­li­che Beschleunigung.»

Außer­dem könnte man aus Müllers Sicht, ähnlich wie bei LNG-Termi­nals, Projek­te vorläu­fig geneh­mi­gen und dann bereits mit dem Bau begin­nen. Oder Betrei­ber könnten sogar — wie im Fall des US-Autoher­stel­lers Tesla in Branden­burg — auf eigenes Risiko ohne Geneh­mi­gung losle­gen. Wird die dann doch nicht erteilt, könnte ein Risiko­fonds den Ausfall absichern, schlägt Müller vor. Für schnel­le­re Verfah­ren brauche man zudem mehr Perso­nal und Digita­li­sie­rung bei Genehmigungsbehörden.

Umwelt­schüt­zer haben Bedenken

Vielen Natur- und Umwelt­schüt­zern ist so viel Beschleu­ni­gung nicht geheu­er. So fordert etwa die Deutsche Umwelt­hil­fe die Rücknah­me des LNG-Geset­zes. Sie kriti­siert, dass Bürger­be­tei­li­gung und Klage­rech­te zu stark beschnit­ten würden und der Umwelt­schutz zu kurz komme. LNG- wie auch Windkraft­pla­ner halten dagegen, die immer detail­lier­te­ren Vorga­ben seien einfach zu langwie­rig. Bei Windrä­dern solle nicht der Schutz jedes einzel­nen Vogels Ziel sein, sondern der Erhalt der Art.

Unterm Strich geht es, wie fast immer, um eine Konkur­renz der Inter­es­sen, oder freund­li­cher gesagt: um eine Abwägung. Und bei LNG flutsch­te es auch deshalb, weil es politisch zur obers­ten Priori­tät erklärt wurde und das allen Betei­lig­ten klar war. Ein am LNG-Termi­nal Lubmin Betei­lig­ter — die Deutsche Regas — berich­tet, dass sich Verant­wort­li­che wöchent­lich in großer Runde getrof­fen hätten. E‑Mails vom Amt kamen plötz­lich auch außer­halb der üblichen Bürozeiten.

Windkraft­pla­ner Brunken sieht das genau­so: «Der größte Unter­schied zum LNG ist der politi­sche und auch gesell­schaft­li­che Wille, das umzuset­zen. Der gefühl­te Handlungs­druck war an dieser Stelle einfach viel größer.» Abseh­bar braucht es aus seiner Sicht densel­ben politi­schen Eifer bei der Energie­wen­de — sonst bleibe sie Illusion.

«Wenn jetzt alle Rädchen inein­an­der­grei­fen, errei­chen wir das Ziel», sagt Agora-Fachmann Müller über die anvisier­ten 115 Gigawatt Windkraft bis 2030. «Aber das erfor­dert Mut, Konse­quenz und umfas­sen­de Maßnah­men, die in dieser Form noch fehlen.»

Von Verena Schmitt-Rosch­mann und Chris­to­pher Hirsch (Text) und Annet­te Riedl (Fotos), dpa