Als Hajrit Singh 2016 aus dem indischen Bundes­staat Punjab nach Ottawa kommt, hat er keine genaue Vorstel­lung, was ihn in Kanada erwar­ten wird. Was den natur­wis­sen­schaft­lich begab­ten Schüler anzieht, ist die Aussicht auf einen Studi­en­platz in Elektrotechnik.

«Am Anfang bin ich zu einem Tempel gegan­gen, um Anschluss bei Menschen mit der gleichen Religi­on zu finden, die meine Sprache sprechen», erinnert sich der 25-Jähri­ge, der zur Religi­ons­ge­mein­schaft der Sikhs gehört. Heute seien, was neue Bekannt­schaf­ten angeht, auch andere Krite­ri­en für ihn wichtig, zum Beispiel gemein­sa­me Interessen.

Neben dem Mann mit dem lange Bart und dem orange­far­be­nen Turban steht eine Kolle­gin mit Kopftuch, die vor 24 Jahren aus dem Libanon einge­wan­dert ist. Die beiden Einwan­de­rer sind zwei von 350 Mitar­bei­tern der Firma Siemens Healt­hi­neers, die in Ottawa tragba­re Blutana­ly­se­ge­rä­te für den Weltmarkt produziert.

«Warum sind Sie nicht nach Deutsch­land gekom­men?», wollen Bundes­ar­beits­mi­nis­ter Huber­tus Heil und seine Kabinetts­kol­le­gin, Innen­mi­nis­te­rin Nancy Faeser, von den Forsche­rin­nen, Labor­kräf­ten und Ingenieu­ren wissen, die ihren Arbeits­platz in einem ehema­li­gen Gebäu­de der kanadi­schen Post haben. Deutsch­land sei als Einwan­de­rungs­land wenig bekannt, bekom­men sie zu hören. Die Sprache sei schwie­rig, die Visaver­fah­ren langwierig.

Techno­lo­gie, Talen­te, Toleranz

Die gemein­sa­me Reise der beiden SPD-Bundes­mi­nis­ter dient als Vorbe­rei­tung für einen Kabinetts­be­schluss, den sie spätes­tens in zwei Wochen anstre­ben. Dann soll über den Entwurf für ein neues Fachkräf­te-Einwan­de­rungs­ge­setz entschie­den werden. «Ein moder­ner Wirtschafts­stand­ort braucht Techno­lo­gie und auch Talen­te, aber eben auch Toleranz», sagt Heil, sicht­lich beein­druckt von der kultu­rel­len Vielfalt im Einwan­de­rungs­land Kanada.

Damit Arbeits­kräf­te den Weg nach Deutsch­land finden, sollen nicht nur die Anfor­de­run­gen teilwei­se abgesenkt und ein Punkte­sys­tem einge­führt werden. Die Beantra­gung des Arbeits­vi­sums soll künftig auch einfa­cher sein. «Wir müssen alles beschleu­ni­gen, was man beschleu­ni­gen kann», sagt Heil, von der Visaver­ga­be bis hin zu den Verfah­ren der Anerken­nung auslän­di­scher Berufsabschlüsse.

Faeser will das geplan­te Vorha­ben unbedingt noch mit einem zweiten verknüp­fen: die erleich­ter­te Einbür­ge­rung. Auslän­der sollen grund­sätz­lich schon nach fünf und nicht erst nach acht Jahren Deutsche werden können. Die doppel­te Staats­bür­ger­schaft soll auch für Einwan­de­rer aus Nicht-EU-Staaten erlaubt sein — bisher gilt das nur in Ausnahmefällen.

«Für die Arbeits­kräf­te ist sehr entschei­dend, dass man in Kanada richtig einwan­dert, das heißt mit dem Ziel, auch am Ende kanadi­scher Staats­bür­ger zu werden oder kanadi­sche Staats­bür­ge­rin», sagt Faeser. «Und auch das wollen wir in Deutsch­land ermög­li­chen, deswe­gen verän­dern wir auch das Staats­an­ge­hö­rig­keits­recht.» Gegen einige Elemen­te dieser Reform hat die FDP aller­dings Beden­ken angemeldet.

Amy Ng (32) ist in Ottawa geboren, hat Neuro­wis­sen­schaf­ten studiert, arbei­tet in der Forschungs­ab­tei­lung von Siemens Healt­hi­neers. Ihre Mutter, eine Mathe­ma­ti­ke­rin, war 1989 aus Brunei einge­wan­dert. Mit ihren Kolle­gin­nen und Kolle­gen verbringt die Forsche­rin auch nach Feier­abend und am Wochen­en­de Zeit. Ihr Freund stammt aus dem Libanon, renoviert Häuser. «Handwer­ker sind hier in Kanada Mangel­wa­re, deshalb ist alles, was mit Renovie­run­gen und Hausbau zu tun hat, gut bezahlt», sagt sie.

Unter­schie­de: Kanada — Deutschland

Darum, das kanadi­sche Einwan­de­rungs­recht als Blaupau­se für die anste­hen­de Geset­zes­än­de­rung in Deutsch­land zu nehmen, geht es bei Heil und Faeser nicht. Dafür sind die Unter­schie­de zu groß. In Kanada ist der Anteil der Menschen, die Einwan­de­rer der ersten oder zweiten Genera­ti­on sind, viel höher als in Deutsch­land. Zudem gibt es kaum irregu­lä­re Migration.

Das bedeu­tet, dass die im Vergleich zu Deutsch­land gerin­ge Zahl an Flücht­lin­gen in der Regel Menschen sind, bei denen der kanadi­sche Staat vorab geschaut hat, ob ein Schutz­grund vorliegt. In einem neuen Pilot­pro­jekt wird zudem geschaut, ob man gezielt Menschen aus Flücht­lings­la­gern die Umsied­lung nach Kanada anbie­ten soll, um sie dann direkt mit Arbeit­ge­bern zusammenzubringen.

Das in Deutsch­land seit Jahren hitzig disku­tier­te Problem der Abschie­bung von Ausrei­se­pflich­ti­gen stellt sich in Kanada nicht. Eine Heraus­for­de­rung, die Kanada und Deutsch­land teilen, ist die Anerken­nung auslän­di­scher Quali­fi­ka­tio­nen. Irani­sche Ingenieu­re, die Kioske betrei­ben oder Taxi fahren, das gibt es sowohl in Kanada als auch in Deutschland.

Aschraf Taufik hat in Ägypten eine Fachschu­le für Hotel­le­rie und Touris­mus besucht und anschlie­ßend mehre­re Jahre in einem Hotel in Saudi-Arabi­en gearbei­tet. In Kanada hat er nicht in seinem ursprüng­li­chen Beruf Fuß fassen können. Statt­des­sen arbei­te­te er zunächst in einem Super­markt, dann in einem Alters­heim und inzwi­schen als Übersetzer.

Dass er 1999 mit seiner Frau und den Kindern nach Toron­to kam, bereut der Ägypter trotz­dem nicht. An seinem neuen Zuhau­se schätzt Taufik die Arbeit­neh­mer­rech­te und die Bildungs­chan­cen für seine drei Kinder. Auch dass Rassis­mus und Diskri­mi­nie­rung scharf sanktio­niert werden, findet der musli­mi­sche Einwan­de­rer gut. Neben der ägypti­schen besitzt er inzwi­schen auch die kanadi­sche Staatsbürgerschaft.

Für seine Ehefrau, die in Ägypten Medizin studiert habe, sei es mit der Anerken­nung ihrer Ausbil­dung schwie­rig gewesen, erzählt der Mittfünf­zi­ger. Sie habe schließ­lich eine Umschu­lung gemacht und arbei­te heute als Psycho­the­ra­peu­tin. Zwei seiner Neffen in Ägypten beleg­ten aktuell Deutsch-Kurse im Goethe Insti­tut berich­tet er. Ihr Ziel sei ein Studi­um in Deutschland.

Von Anne-Beatri­ce Clasmann, dpa