BERLIN (dpa) — Ob 100 Gramm oder die doppel­te Menge in der Packung sind, ist egal: Geöff­ne­te Chips­tü­ten schaf­fen es selten mit Rest in den nächs­ten Tag. Warum ist die Lust am Futtern bei ihnen so schwer zu bremsen?

Für viele sieht der optima­le Feier­abend in etwa so aus: Beine hoch, Flimmer­kis­te an, Chips­tü­te her. Oft geht der Griff aber schon wenig später ins Leere. Warum können wir nicht aufhö­ren, bevor die ganze Tüte leer ist?

Weil das Futtern gerade von Fetti­gem oder Süßem glück­lich macht, wie Martin Smollich, Ernäh­rungs­wis­sen­schaft­ler am Insti­tut für Ernäh­rungs­me­di­zin an der Univer­si­tät zu Lübeck und am Univer­si­täts­kli­ni­kum Schles­wig-Holstein, erklärt. «Die Darmzel­len haben Senso­ren für Zucker und Fett.»

Wenn dort die Molekü­le aus der Nahrung ankämen, werde ein elektri­scher Impuls über die Nerven ins Gehirn gelei­tet. «Dort wird dann der Boten­stoff Dopamin ausge­schüt­tet. Dopamin verstärkt den Appetit und erzeugt ein Glücks­ge­fühl.» Und ganz beson­ders glück­lich reagiert das Gehirn, wenn Zucker und Fett in einem Lebens­mit­tel mitein­an­der kombi­niert sind. Manche Exper­ten sprechen vom sogenann­ten Nutella-Effekt.

Süßprä­fe­renz ist angeboren

Die Vorlie­be für Süßes und Fetti­ges hat ihren Ursprung in Zeiten des Mangels. «Früher war es so, dass Nahrung insge­samt knapp und vor allem im Winter kaum vorhan­den war», erklärt Smollich. Und Fett und Zucker seien die wichtigs­ten Energie­trä­ger. «Menschen, die darauf beson­ders angespro­chen und sich Vorrä­te für Hunger­zei­ten angeges­sen haben, hatten folglich auch die besse­ren Überlebenschancen.»

Studi­en hätten gezeigt, dass der Mensch über eine angebo­re­ne Süßprä­fe­renz verfügt, sagt Smollich. «Schon ungebo­re­ne Kinder im Uterus lächeln, wenn die Schwan­ge­re etwas Süßes statt etwas Bitte­rem isst.» Diese Prägung mache auch Sinn: In der Natur gebe es fast nichts, was süß und gleich­zei­tig giftig sei. Gifti­ge Pflan­zen und Früch­te schmeck­ten meist bitter.

Ein weite­rer Faktor sind kultu­rel­le Muster. In einigen Regio­nen gehöre das Feier­abend­bier einfach dazu — «und das gilt auch für Chips», sagt Chris­toph Klotter, bis zu seinem Ruhestand Ernäh­rungs­psy­cho­lo­ge und Psycho­the­ra­peut an der Hochschu­le Fulda. «Denn die stehen in unserer Kultur für Erholung, Entspan­nung und Vergnügen.»

Daneben spiele Gewohn­heit eine Rolle, so Klotter. «Wenn ich in den Super­markt gehe, dann wähle ich seit Jahren immer die gleiche Joghurts­or­te aus. Oder wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, dann muss es eben etwas Süßes sein.» Nicht zuletzt werde Essen oft als Emoti­ons­ma­na­ger einge­setzt. «Wenn wir abends allei­ne vor dem Fernse­her sitzen und uns einsam fühlen, dann wird der Kummer wegge­ges­sen», sagt der Psycho­lo­ge. Mit dem Partner könne es am Ende des Tages Konflik­te geben — mit dem Kühlschrank nicht.

Neue Muster lernen ist schwer

Wie stark sich solche Gewohn­hei­ten ins Gehirn fräsen, zeigt eine kürzlich vorge­stell­te Studie. Weil fetti­ge und süße Lebens­mit­tel das Beloh­nungs­sys­tem so stark aktivier­ten, lerne das Gehirn, unbewusst solche Lebens­mit­tel zu bevor­zu­gen, berich­te­te ein Team des Max-Planck-Insti­tuts für Stoff­wech­sel­for­schung in Köln im März. «Unsere Messun­gen der Gehirn­ak­ti­vi­tä­ten haben gezeigt, dass sich das Gehirn durch den Konsum von Pommes und Co. neu verdrah­tet. Es lernt unter­be­wusst, beloh­nen­des Essen zu bevor­zu­gen», erläu­ter­te Studi­en­lei­ter Marc Tittgemeyer.

Einge­fah­re­ne Muster zu durch­bre­chen und die Chips­tü­te gar nicht erst aufzu­ma­chen, sondern vielleicht zum gesün­de­ren Apfel zu greifen, könne daher schwer­fal­len, sagt Armin Valet von der Verbrau­cher­zen­tra­le Hamburg. Chips zählten zudem zu den Lebens­mit­teln mit einge­bau­tem Sucht­fak­tor: «Klar ist, dass in Chips Stoffe enthal­ten sind, die geschmacks­ver­stär­kend wirken. Vor allem Aromen stehen im Verdacht, ein stärke­res Verlan­gen auszu­lö­sen. Hefeex­trakt, und früher das Glutamat, haben eine ähnli­che Wirkung.»

Entspre­chend groß muss der Wille sein, die Chips­tü­te mal nicht anzurüh­ren — oder zumin­dest nur einen kleinen Teil wegzu­fut­tern. Dafür sei unter anderem wichtig, dass das Futtern nicht neben­bei — also etwa paral­lel zum Film- oder Handy­gu­cken — passie­re, sagt Ernäh­rungs­wis­sen­schaft­ler Smollich. Wichtig sei auch Unter­stüt­zung durch Berater oder eine vertrau­te Person aus dem Umfeld. Denn, wie Armin Valet bemerkt: Die nächs­te Chips­tü­te ist bei einem Anfall von Verlan­gen meist ein kurzes Stück entfernt schon zu haben.

Von Lena Johan­na Philip­pi, dpa