KIEW (dpa) — Der erste Schnee ist gefal­len, die Tempe­ra­tu­ren sind unter den Gefrier­punkt gesackt. Welche Auswir­kun­gen hat der Winter auf das Leben der Bevöl­ke­rung und den Fortgang des Krieges in der Ukraine?

Die russi­sche Armee hat die Energie­ver­sor­gung der Ukrai­ne massiv beschä­digt. Viele Haushal­te sind bei eisigen Tempe­ra­tu­ren zeitwei­se oder sogar komplett ohne Heizung, Strom und Wasser. Moskau recht­fer­tigt dies damit, dass die Infra­struk­tur vom ukrai­ni­schen Militär genutzt werde. Derweil steht der Winter vor der Tür. Wie werden sich Strom­not­stand und Kälte auf die weite­re Entwick­lung auswir­ken? Ein Überblick.

Wie ist die Energie­si­tua­ti­on zum Winterbeginn?

Nach der Serie russi­scher Raketen­an­grif­fe auf das Strom­netz kämpft die Ukrai­ne mit massi­ven Strom­aus­fäl­len. Viele Haushal­te erhal­ten nur noch maximal acht Stunden Strom täglich. Laut Netzbe­trei­ber Ukren­er­ho fehlt landes­weit mehr als ein Viertel und in Kiew mehr als ein Drittel der nötigen Strom­men­ge. Impor­te aus dem Westen decken dabei höchs­tens zehn Prozent des Bedarfs.

Zugleich versucht Minis­ter­prä­si­dent Denys Schmyhal zu beruhi­gen: 14 Milli­ar­den Kubik­me­ter Erdgas und 1,3 Millio­nen Tonnen Kohle an Reser­ven reich­ten aus, um das Land mit Elektri­zi­tät und Fernwär­me zu versor­gen. Über 50 Prozent des Strom­be­darfs werden ohnehin durch die Atom- und Wasser­kraft­wer­ke gedeckt.

Kann sich das Land mit Lebens­mit­teln versorgen?

Bisher haben die Attacken nicht zu Versor­gungs­lü­cken geführt. Geschäf­te und Märkte sind bis auf die front­na­hen Gebie­te gut gefüllt. Aufgrund von Arbeits­lo­sig­keit und einer Infla­ti­ons­ra­te von 26,6 Prozent im Oktober können sich aber immer weniger Ukrai­ner Lebens­mit­tel und andere Produk­te des tägli­chen Bedarfs leisten.

Beson­ders hart trifft es einkom­mens­schwa­che Gruppen. Die Durch­schnitts­ren­te der etwa elf Millio­nen Rentner liegt bei umgerech­net 120 Euro. Die Mehrzahl von ihnen muss jedoch mit monat­lich nicht mehr als 75 Euro überle­ben und ist auf Hilfen von Verwand­ten oder Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen angewiesen.

Wird es eine neue Treib­stoff­kri­se in der Ukrai­ne geben?

Wegen der ständi­gen unvor­her­seh­ba­ren Strom­aus­fäl­le nutzen Ukrai­ner massiv Strom­ge­ne­ra­to­ren. Die Regie­rung hat den Import durch eine Zollbe­frei­ung stimu­liert. Im Nahver­kehr wurden die Oberlei­tungs­bus­se und Straßen­bah­nen durch diesel­be­trie­be­ne Busse ersetzt. Die Eisen­bahn setzt vermehrt Diesel­loks ein.

An den Tankstel­len kam es erneut ähnlich wie zu Kriegs­be­ginn und im Frühling zu langen Schlan­gen. Die Nachfra­ge nach Benzin und Diesel ist kurzzei­tig um über 30 Prozent gestie­gen. Dem von Treib­stoff­im­por­ten abhän­gi­gen Land drohen bei neuen Luftschlä­gen auf das Strom­netz erneut leere Tankstel­len. Das dürfte auch Auswir­kun­gen auf die allge­mei­ne Versor­gungs­la­ge haben.

Ist eine neue Flücht­lings­wel­le zu erwarten?

Im Hinter­land haben sich die Bewoh­ner bereits auf Raketen­an­grif­fe und Strom­aus­fäl­le einge­stellt. An der Front ist vorerst nicht mit russi­schen Durch­brü­chen zu rechnen, die eine neue Flucht­wel­le auslö­sen könnten. Sollten neue russi­sche Luftschlä­ge aber zu irrepa­ra­blen Black­outs und Heizungs­aus­fäl­len führen, könnten viele Ukrai­ner in die EU fliehen — insbe­son­de­re, wenn das aktuel­le Frost­wet­ter in der Ukrai­ne länger anhält.

Ende kommen­der Woche sollen die Tempe­ra­tu­ren aber deutlich ins Plus steigen. Die Winter in den vergan­ge­nen Jahren waren zudem selbst im Januar und Febru­ar recht mild. Kiew hat dazu landes­weit mit der Einrich­tung von Aufwärm­punk­ten in Schulen, Kinder­gär­ten und großen Zelten begon­nen, die auch mit Strom­ge­ne­ra­to­ren und teils Inter­net ausge­rüs­tet wurden.

Wie kann die Ukrai­ne die Front im Winter versorgen?

Kälte ist der Feind des Solda­ten. Verlet­zun­gen und Ausfall der Technik werden allein aufgrund der Wetter­be­din­gun­gen zuneh­men. Auch die Versor­gung ist schwe­rer: Die Solda­ten brauchen mehr Verpfle­gung, mehr Brenn­stoff, wärme­re Kleidung als im Sommer. Aufru­fe — auch an den Westen — zur Liefe­rung von Winter­klei­dung und Brenn­stoff gab es. Es ist aber noch unklar, ob die Vorbe­rei­tung ausrei­chend war.

Im Gegen­satz zum schlam­mi­gen Herbst bietet tiefge­fro­re­nes Gelän­de immer­hin die Möglich­keit, auch abseits der Straßen die Truppen zu versor­gen. Große Trans­por­te über die Eisen­bahn sind aber durch die russi­schen Raketen­schlä­ge eingeschränkt.

Welche Auswir­kun­gen wird der Winter auf die Kriegs­füh­rung haben?

Im Winter wird die derzei­ti­ge opera­ti­ve Pause durch den Herbst­schlamm vermut­lich beendet. Für die Ukrai­ne, die auf schnel­le Vorstö­ße setzt, ergeben sich wieder besse­re Voraus­set­zun­gen, ihre Taktik umzuset­zen. Während die Russen immer noch überle­ge­ne Feuer­kraft haben, sind die Ukrai­ner in der Manövrier­fä­hig­keit überle­gen. Wichtig wird aller­dings sein, welche Seite ihre Solda­ten und Technik besser für den Winter ausge­rüs­tet hat. Die meisten Beobach­ter sehen die Ukrai­ne hier vorn.

Kann Russland aus dem Dauer­be­schuss Nutzen schlagen?

Ein zynisches Kalkül der Luftschlä­ge besteht darin, die ukrai­ni­sche Bevöl­ke­rung gegen die Regie­rung aufzu­brin­gen, was sich auch auf die Kampf­mo­ral der kämpfen­den Solda­ten auswir­ken soll. Der Dauer­be­schuss zielt zudem darauf ab, die Ressour­cen der ukrai­ni­schen Luftab­wehr zu schwä­chen, die sich auf viele Punkte konzen­trie­ren muss.

Daneben schaf­fen die Black­outs auch bei der Versor­gung der Armee und der Truppen­ver­le­gung Schwie­rig­kei­ten. Die Bahn ist teilwei­se lahmge­legt. Die Produk­ti­on von Muniti­on und Kriegs­wa­ren wird ebenfalls behin­dert. Aller­dings haben während des Krieges die Bedürf­nis­se der Front Vorrang. Die wenigen vorhan­de­nen Strom­ka­pa­zi­tä­ten werden für kriegs­wich­ti­ge Einrich­tun­gen reser­viert. Der Nutzen eines solchen Bombar­de­ments ist also aus rein militä­ri­scher Sicht begrenzt.

Von Andre­as Stein und André Ballin, dpa