BRÜSSEL (dpa) — Gipfel­tref­fen von Nato, EU und G7 an einem Tag — das gab es in der Geschich­te der inter­na­tio­na­len Politik noch nie. Anlass ist der russi­sche Angriffs­krieg gegen die Ukrai­ne. Was kann der Westen tun?

Seit vier Wochen führt Russland einen grausa­men Krieg gegen sein Nachbar­land Ukrai­ne. Der Westen reagiert mit beispiel­lo­sen Sanktio­nen — schließt aber weiter ein militä­ri­sches Eingrei­fen in den Konflikt katego­risch aus.

Und noch immer verdie­nen russi­sche Staats­un­ter­neh­men täglich riesi­ge Summen mit Energie­lie­fe­run­gen in Ländern wie Deutschland.

Bleibt es im zweiten Kriegs­mo­nat dabei? In Brüssel wird an diesem Donners­tag auf Spitzen­ebe­ne darüber beraten, wie es weiter­ge­hen soll und welche Konse­quen­zen noch gezogen werden müssen. Erst bei der Nato, dann im Kreise der G7 und schließ­lich bei der EU. US-Präsi­dent Joe Biden, Kanadas Premier­mi­nis­ter Justin Trudeau und Japans Minis­ter­prä­si­dent Fumio Kishi­da sind für die Gesprä­che nach Europa gereist. Die Liste der heiklen Gesprächs­the­men ist lang:

Die Unter­stüt­zung für die Ukraine

Als Russland am frühen Morgen des 24. Febru­ar den Angriff starte­te, rechne­te kaum jemand im Westen damit, dass die Ukrai­ner dem lange etwas entge­gen­set­zen könnten. Die russi­schen Streit­kräf­te unter­schätz­ten aller­dings ihre Gegner und machten schwe­re strate­gi­sche Fehler — was es wieder­um dem Westen ermög­lich­te, mit massi­ven Waffen­lie­fe­run­gen an die ukrai­ni­schen Streit­kräf­te zu beginnen.

Diese Waffen­lie­fe­run­gen und der starke Vertei­di­gungs­wil­len der Ukrai­ner führen nun sogar dazu, dass westli­che Militär­ex­per­ten daran zweifeln, ob es Russland überhaupt noch gelin­gen kann, die Haupt­stadt Kiew einzu­neh­men — zumin­dest nicht ohne den Einsatz von Massenvernichtungswaffen.

In Brüssel soll nun darüber beraten werden, wie die Waffen­lie­fe­run­gen fortge­setzt bezie­hungs­wei­se sogar weiter ausge­baut werden können und wie auch der Weiter­be­trieb des ukrai­ni­schen Staats sicher­ge­stellt werden kann. Wahrschein­lich ist, dass beim EU-Gipfel dafür ein Solida­ri­täts­fonds beschlos­sen wird. Zuletzt hatten die EU-Staaten beschlos­sen, die Mittel für Ausrüs­tungs­lie­fe­run­gen an die ukrai­ni­schen Streit­kräf­te auf eine Milli­ar­de Euro zu verdop­peln. Einen noch etwas größe­ren Betrag stellen die USA für Waffen zu Verfügung.

Zu einer Maßnah­me, die die Ukrai­ne sich wünscht, wird es aber sicher nicht kommen: zu einer Flugver­bots­zo­ne. Sie würde den Eintritt der Nato in den Krieg bedeu­ten, da das Bündnis notfalls russi­sche Flugzeu­ge abschie­ßen müsste, um die Flugver­bots­zo­ne durch­zu­set­zen. «Die Nato wird nicht Kriegs­par­tei – da sind wir uns mit unseren europäi­schen Verbün­de­ten und den Verei­nig­ten Staaten einig», hat Bundes­kanz­ler Olaf Scholz am Mittwoch im Bundes­tag noch einmal betont.

Die Sanktio­nen gegen Russland

Export­ver­bo­te für Hightech-Produk­te und Luxus­gü­ter, einge­fro­re­ne Vermö­gen, Luftraum­sper­run­gen und der Ausschluss von zahlrei­chen inter­na­tio­na­len Wettbe­wer­ben: Die Liste der Straf­maß­nah­men, die der Westen gegen Russland seit Kriegs­be­ginn erlas­sen hat, ist lang. In der letzten Zeit wurde aber auch deutlich, dass die EU und die USA nicht in allen Berei­chen wirklich am gleichen Strang ziehen.

Aus deutschen Regie­rungs­krei­sen heißt es dazu, man strebe weiter­hin ein gemein­sa­mes Vorge­hen an, ohne immer unbedingt die identi­schen Maßnah­men zu ergrei­fen. Das trifft zum Beispiel für russi­sche Energie­lie­fe­run­gen zu. Während die USA die Ölein­fuh­ren gestoppt haben, konnte sich die EU wegen ihrer deutlich höheren Abhän­gig­keit von russi­scher Energie noch nicht zu einem Embar­go durch­rin­gen. Kanzler Scholz ist strikt dagegen. Er sagt, das würde ganz Europa in eine Rezes­si­on stürzen. «Hundert­tau­sen­de Arbeits­plät­ze wären in Gefahr. Ganze Indus­trie­zwei­ge stünden auf der Kippe.»

Um den Druck gegen­über Russland dennoch weiter­hin aufrecht­zu­er­hal­ten, soll jetzt erst einmal geschaut werden, in welchen Berei­chen Moskau eine Umgehung der bestehen­den Sanktio­nen erschwert werden könnte.

Für US-Präsi­dent Biden ist mit seiner Reise nach Europa ganz klar eine Botschaft verbun­den: die Einig­keit des Westens demons­trie­ren. Es ginge darum, die «kollek­ti­ve Entschlos­sen­heit» der Verbün­de­ten zu festi­gen, sagte Bidens Natio­na­ler Sicher­heits­be­ra­ter Jake Sulli­van. Biden verbucht es als seinen Erfolg, dass der Westen gemein­sam mit harten Sanktio­nen auf Russlands Angriffs­krieg reagiert hat. Der US-Präsi­dent will nun sicher­stel­len, dass diese Front mit der Dauer des Krieges nicht bröckelt.

Neues Bezahl­sys­tem für Gaslieferungen

Für Gaslie­fe­run­gen aus Russland müssen Kunden in Deutsch­land und anderen EU-Staaten künftig in Rubel bezah­len. Der von Kreml-Chef Wladi­mir Putin angekün­dig­te Schritt wurde vor allem als Retour­kut­sche gewer­tet. Die USA und andere westli­che Länder hatten als Reakti­on auf den Einmarsch Russlands in die Ukrai­ne einen großen Teil der russi­schen Währungs­re­ser­ven einge­fro­ren und zahlrei­che weite­re Sanktio­nen verhängt. Der Rubel ist seitdem auf histo­ri­sche Tiefstän­de gefal­len. Mit dem neuen Bezahl­sys­tem würde die Nachfra­ge nach Rubel zuneh­men und die russi­sche Währung zunächst einmal gestützt. Wirtschafts­mi­nis­ter Robert Habeck (Grüne) warf Putin Vertrags­bruch vor, die Gaswirt­schaft reagier­te mit Unver­ständ­nis. Der Vorstoß belas­te­te zudem die Aktienmärkte.

Die Abschre­ckung gegen Russland

Wie viele neue Luftab­wehr­sys­te­me, Waffen und Truppen muss die Nato zusätz­lich an der Ostflan­ke statio­nie­ren, um ein aggres­si­ves Russland effek­tiv abzuschre­cken? Diese Frage werden die 30 Mitglied­staa­ten in den nächs­ten Wochen und Monaten beant­wor­ten müssen. Die Staats- und Regie­rungs­chefs könnten bereits an diesem Donners­tag die Richtung vorgeben.

Kurzfris­tig wird die Gefahr eines russi­schen Angriffs gegen Nato-Terri­to­ri­um unter­des­sen als sehr gering einge­schätzt. Grund dafür ist, dass ein erheb­li­cher Teil der russi­schen Streit­kräf­te noch auf abseh­ba­re Zeit durch den Ukrai­ne-Krieg gebun­den sein dürfte.

Verstärkt wird die Ostflan­ke derzeit deswe­gen vor allem symbo­lisch. So hat Nato-General­se­kre­tär Jens Stolten­berg am Mittwoch angekün­digt, dass in der Slowa­kei, Ungarn, Rumäni­en und Bulga­ri­en kurzfris­tig je ein multi­na­tio­na­ler Gefechts­ver­band aufge­baut wird. Bislang hat die Nato nur in den balti­schen Staaten Estland, Lettland und Litau­en sowie in Polen dauer­haft sogenann­te Battle­groups stationiert.

Der Umgang mit den Kriegsflüchtlingen

Von den mehr als 44 Millio­nen Ukrai­nern sind nach UN-Angaben bereits mehr als drei Millio­nen ins Ausland geflo­hen. Die EU rechnet damit, dass es acht bis zehn Millio­nen werden. Aus Sicht Deutsch­lands machen es die Entwick­lun­gen notwen­dig, die Menschen in ganz Europa zu vertei­len. «Wir müssen von der Außen­gren­ze direkt in europäi­sche Länder vertei­len. Jeder muss Geflüch­te­te aufneh­men», sagte Bundes­au­ßen­mi­nis­te­rin Annale­na Baerbock Anfang der Woche und schlug eine «eine solida­ri­sche Luftbrü­cke» vor. Die Zahl pro Land werde «in die Hundert­tau­sen­de» gehen müssen. Zusätz­lich sollte auch über den Atlan­tik verteilt werden.

Die USA dürften für viele Geflüch­te­te aus der Ukrai­ne nicht das erste Ziel sein. Aber Forde­run­gen an die Ameri­ka­ner, sich bei der Aufnah­me von Kriegs­flücht­lin­gen stärker zu engagie­ren, werden lauter. Polens Präsi­dent Andrzej Duda hatte bereits an die US-Regie­rung appel­liert, für die Dauer des Kriegs Geflüch­te­te aufzu­neh­men. Die USA prüfen nun mögli­che Einrei­se-Erleich­te­run­gen für Geflüch­te­te aus der Ukrai­ne, denn die forma­le Anerken­nung als Flücht­ling in den USA kann Jahre dauern.

Der Umgang mit China

Die USA warnen China vor einer Unter­stüt­zung Russlands beim Krieg gegen die Ukrai­ne. Zuletzt hatte Biden Chinas Staats- und Partei­chef Xi Jinping in einer Video­schal­te persön­lich mit Konse­quen­zen gedroht. Die USA wollen sich nun auch mit Blick auf einen EU-China-Gipfel am 1. April mit den europäi­schen Verbün­de­ten über ein gemein­sa­mes Vorge­hen abstim­men. «Wir glauben, dass wir mit unseren europäi­schen Partnern einer Meinung sind und in dieser Frage mit einer Stimme sprechen werden«, sagt Bidens Sicher­heits­be­ra­ter Jake Sullivan.

Von Ansgar Haase, Julia Naue und Micha­el Fischer, dpa