FRANKFURT/MAIN (dpa) — Bezahl­ba­res Öl und Gas halten die deutsche Wirtschaft am Laufen. Plötz­lich muss Deutsch­land umsteu­ern. Müssen die Bürger verzich­ten lernen?

Der Ukrai­ne-Krieg «wird uns Wohlstand kosten», sagt Bundes­wirt­schaft­mi­nis­ter Robert Habeck. Und Finanz­mi­nis­ter Chris­ti­an Lindner mahnt, Deutsch­land müsse sich «neue Quellen des gesell­schaft­li­chen Wohlstands erarbeiten».

Grüne und FDP in selte­ner Einmü­tig­keit. Dass Russland als verläss­li­cher Partner die deutsche Wirtschaft auch in Zukunft mit bezahl­ba­rem Öl und Gas versor­gen wird, ist angesichts der Konfron­ta­ti­on mehr als fraglich. Deutsch­lands Verbrau­cher bekom­men die Folgen Tag für Tag vor Augen geführt: Die Benzin­prei­se sind kletter­ten auf Rekord­ni­veau. Im Einzel­han­del haben sich viele Waren verteu­ert. In manchem Super­markt sind die Regale für Speise­öl leer. Die Corona-Krise ist noch nicht verdaut, da katapul­tiert der Krieg im Osten Europas die Wohlstands­ge­sell­schaf­ten im Westen in eine neue Zeit.

«Frieren für die Freiheit»

«Wir können auch einmal frieren für die Freiheit. Und wir können auch einmal ein paar Jahre ertra­gen, dass wir weniger an Lebens­glück und Lebens­freu­de haben», sagte der frühe­re Bundes­prä­si­dent Joachim Gauck Mitte März in der ARD-Talkshow «Maisch­ber­ger». Das Nachrich­ten­ma­ga­zin «Der Spiegel» hielt fest: «Wörter, die sehr lange keine Rolle mehr gespielt haben in der deutschen Wirklich­keit, kehren zurück: Verzicht, Entbeh­rung, Opfer­be­reit­schaft, Mangel.»

Umfra­gen zufol­ge schrän­ken sich viele Menschen in Deutsch­land bereits ein. Etwa jeder siebte Erwach­se­ne kann nach eigenen Angaben angesichts der gestie­ge­nen Teuerung — 7,3 Prozent im März — kaum noch die Lebens­hal­tungs­kos­ten bestrei­ten, wie eine YouGov-Erhebung im Auftrag der Postbank ergab. Von den Befrag­ten aus Haushal­ten mit einem monat­li­chen Netto­ein­kom­men unter 2500 Euro geben knapp 24 Prozent an, sie seien wegen gestie­ge­ner Preise kaum noch in der Lage, die regel­mä­ßi­gen Ausga­ben zu stemmen. Im Januar sagten dies noch 17 Prozent aus dieser Gruppe. Die Infla­ti­on zehrt an der Kaufkraft der Menschen.

«Ukrai­ne-Krieg macht uns alle ärmer»

Zwei milli­ar­den­schwe­re Pakete hat die Bundes­re­gie­rung geschnürt, um die Menschen angesichts der Energie- und Sprit­prei­se zu entlas­ten. Auf Dauer jedoch wird der Staat es allein mit Geld nicht richten können. «Der Ukrai­ne-Krieg macht uns alle ärmer, zum Beispiel weil wir mehr für impor­tier­te Energie zahlen müssen», sagte FDP-Chef Lindner Anfang April der «Bild am Sonntag». «Diesen Wohlstands­ver­lust kann auch der Staat nicht auffangen.»

Siche­res Einkom­men, sich materi­el­le Wünsche erfül­len können — in dem seit 2012 quartals­wei­se erhobe­nen Wohlstands­ba­ro­me­ter des Markt­for­schungs­in­sti­tuts Ipsos bekom­men solche Fakto­ren hohe Zustim­mungs­wer­te, wenn Menschen nach ihrem Verständ­nis von Wohlstand gefragt werden.

Anders als in den Krisen der vergan­ge­nen Jahre erschüt­tert der Krieg in der Ukrai­ne manche Selbst­ver­ständ­lich­keit auch in Deutsch­land. «Eine weite­re Folge des Ukrai­ne-Kriegs ist das Ende der Friedens­di­vi­den­de in Form fallen­der Rüstungs­aus­ga­ben», analy­sier­te Ifo-Präsi­dent Clemens Fuest. Der Wehretat wird deutlich erhöht. «Das bedeu­tet Kürzun­gen öffent­li­cher Leistun­gen in anderen Berei­chen und höhere Steuern, also letzt­lich weniger Wohlstand», sagt Fuest.

«Inven­tur des fossi­len Zeitalters»

Tempo­li­mit, autofreie Sonnta­ge, Heizung runter­dre­hen — die Liste der Vorschlä­ge zum Sparen gegen die Energie­kri­se enthält wenig Neues. Kurzfris­ti­ges Reagie­ren allein dürfte ohnehin nicht ausrei­chen. Unter der Überschrift «Eine Inven­tur des fossi­len Zeital­ters» kommt in einem Beitrag der Max-Planck-Gesell­schaft bereits im März 2020 der Kultur­theo­re­ti­ker Benja­min Steini­ger zu Wort: «Wir leben in Städten, die nur motori­siert zu errei­chen sind, tragen Goretex und Nylon, ernäh­ren uns mithil­fe von Kunst­dün­ger, sind auf Medika­men­te angewie­sen — alles Dinge, die auf Erdöl, Gas und Stein­koh­le basie­ren. Konkret wie abstrakt ist unser Lebens­stil auf eine Weise von fossi­len Rohstof­fen geprägt, die wir noch kaum durch­drun­gen haben.»

Morali­sche Erwägun­gen — etwa bei der Beschaf­fung von Gas und Öl aus autokra­ti­schen Staaten — seien in den vergan­ge­nen Jahrzehn­ten dem Konsum unter­ge­ord­net worden, meint der Polito­lo­ge Philipp Lepenies. «Die neoli­be­ra­le Markt­er­zäh­lung geht davon aus, dass der höchs­te Grad der Freiheit der der freien Konsum­entschei­dung ist», sagte der Leiter des Forschungs­zen­trum für Nachhal­tig­keit am Otto-Suhr-Insti­tut der Freien Univer­si­tät Berlin im Sender SWR2. Auf einmal müssten sich Staat und Bürger «die Folgen des eigenen Konsums viel drama­ti­scher klarma­chen als je zuvor».

«Der dritte große Rückschlag für die Globalisierung»

Die «Globa­li­sie­rungs­eu­pho­rie» der 90er Jahre, wie Lepenies es nennt, ebbt ab. Jahrzehn­te­lang profi­tier­te Deutsch­land vom freien Welthan­del, der den Zugang zu billi­gen Produk­ten und Rohstof­fen ermög­lich­te. Das hielt neben anderen Fakto­ren die Infla­ti­ons­ra­ten auf vergleichs­wei­se niedri­gem Niveau. «Die meisten Dinge, die wir kaufen, werden inzwi­schen im Ausland herge­stellt — harmlos ausge­drückt — zu Billig­löh­nen und — weniger harmlos ausge­drückt — teilwei­se unter sklave­rei­ähn­li­chen Bedin­gun­gen», sagte jüngst der aus der Modebran­che stammen­de Buchau­tor Carl Tillessen.

Die Rahmen­be­din­gun­gen für den Welthan­del haben sich sehr verän­dert — nach Ansicht von Ökono­men nicht erst seit dem Angriff Russlands auf die Ukrai­ne. «Der Putin-Schock dürfte sich als der dritte große Rückschlag für die Globa­li­sie­rung und die globa­len Liefer­ket­ten in den letzten Jahren erwei­sen, nach dem Handels­krieg zwischen den USA und China sowie den Unter­bre­chun­gen der Liefer­ket­ten im Zusam­men­hang mit Covid», argumen­tiert die Deutsche-Bank-Fonds­toch­ter DWS.

Produk­ti­on aus Billig­lohn­län­dern nach Deutsch­land zurück­zu­ho­len bedeu­tet tenden­zi­ell höhere Preise. Eine generel­le Tendenz zur «Deglo­ba­li­sie­rung» könnte die Güter­strö­me verän­dern und dadurch die Verbrau­cher­prei­se nach oben treiben, schrie­ben Ökono­men der DZ Bank bereits im Mai 2021. Einen Preis für den Freiheits­kampf der Ukrai­ne zahlen somit auch die Menschen in Deutschland.

Von Jörn Bender und Friede­ri­ke Marx, dpa