Die Vorschul­rei­he «Sesam­stra­ße» gehört zum Fernse­hen in Deutsch­land wie «Die Sendung mit der Maus», die «Tages­schau» und der «Tatort». Doch ihr Start in der Bundes­re­pu­blik war bedächtig.

HAMBURG/BERLIN (dpa) — Millio­nen deutsche Kinder der 70er und 80er Jahre denken an Tiffy, Samson und Herrn von Bödefeld, an Lilo Pulver, Uwe Fried­rich­sen, Horst Janson und Ilse Biberti.

Global gesehen sind dagegen Ernie und Bert, das Krümel­mons­ter, Graf Zahl, Grobi und Elmo in den Köpfen, wenn der Titel der Vorschul­rei­he «Sesam­stra­ße» fällt. In mehr als 150 Ländern erreich­te die Kinder­sen­dung mit ihren Puppen kleine Fans — oft mit lokal angepass­ten Ablegern. Darun­ter sind auch Staaten wie China, Nigeria und Afghanistan.

Während in den USA schon Ende 1969 die erste «Sesam­stra­ße» über die Bildschir­me flimmer­te, kam die Sendung des Children’s Televi­si­on Workshop (CTW) erst 1973 synchro­ni­siert nach Deutsch­land. Dazwi­schen — vor genau 50 Jahren — gab es einen Testlauf mit Original-Folgen.

Vom 5. bis 9. April 1971 strahl­te der Norddeut­sche Rundfunk fünf Episo­den der ameri­ka­ni­schen Sende­rei­he «Sesame Street» zur Vorschul­er­zie­hung im Dritten Programm von NDR, Radio Bremen und SFB (Sender Freies Berlin) aus. Anfang Mai ’71 zog auch der Westdeut­sche Rundfunk (WDR) mit den Origi­nal­fas­sun­gen nach.

«Die 60-minüti­gen Folgen wurden ledig­lich mit einem erklä­ren­den deutschen Kurzkom­men­tar unter­legt, und an ihrem Ende wurden die Zuschau­er aufge­for­dert, dem Sender mitzu­tei­len, was sie von dem neuen ameri­ka­ni­schen Format hielten», heißt es vom NDR dazu.

Als in Deutsch­land ab 1973 synchro­ni­sier­te Origi­nal-Folgen ausge­strahlt wurden, protes­tier­te ein Bündnis aus Eltern, Erzie­hern und Wissen­schaft­lern gegen das Flair der ameri­ka­ni­schen Straßen­sze­nen, das mit der Lebens­welt deutscher Kinder nichts gemein habe. Deutsch­land bekam dann ab etwa 1977 mehr eigene «Sesam­stra­ße» mit Figuren wie dem leicht­gläu­bi­gen Bären Samson («uiuiuiuiui»), der altklu­gen Tiffy und Schau­spiel-Stars wie Henning Venske, Liselot­te Pulver, Uwe Fried­rich­sen, Horst Janson, Ute Willing, Manfred Krug.

Um die Serie anzupas­sen, begann man eben, zusätz­li­che Beiträ­ge in Deutsch­land zu drehen und in die ameri­ka­ni­schen Folgen einzu­fü­gen. Mit rund zwei Dritteln kam zwar der überwie­gen­de Inhalt noch aus den USA, aller­dings wurde das im Laufe der Jahre immer weiter verringert.

Die Schau­spie­le­rin, Regis­seu­rin und Autorin Ilse Biber­ti, die vor 40 Jahren mehr als 200 Folgen für die deutsche «Sesam­stra­ße» drehte, erinnert sich gern an diese Zeit. «Ich bekom­me noch heute Autogramm­wün­sche oder via Social Media «Liebes­er­klä­run­gen» damali­ger Kinder», sagt die 63-Jähri­ge. «Mir wird immer wieder gesagt, ich sei ein Teil der Familie gewesen.»

Beim Testlauf der «Sesam­stra­ße» im Frühling 1971 war Biber­ti zwar erst 13 Jahre alt, aber an ihrer Schule schon politisch aktiv und in der Schau­spiel­schu­le. «Gleich­be­rech­tig­te Bildungs­chan­cen waren damals ein heißes Thema.» An ihrer Schule habe es junge Lehrer gegeben, die den Geist der 68er von der Uni mitbrach­ten. Fortschritt­li­che Pädago­gen sahen viel Poten­zi­al in Forma­ten wie der «Sesam­stra­ße».

Biber­ti, die den Namen des Comedi­an-Harmo­nists-Sängers Robert Biber­ti (1902–1985) trägt, der sie in den 70ern als Tochter annahm, hatte schon jung TV-Rollen gespielt. Aus politi­scher Überzeu­gung ging sie ans Grips-Theater in Berlin. «Beim Casting für die «Sesam­stra­ße» war ich stark erkäl­tet, perma­nent tränten meine Augen. Doch zu meiner Überra­schung wurde ich sofort besetzt.»

Sie drehte mit dem 22 Jahre älteren Horst Janson, mit dem sie noch heute Kontakt hat, wie sie sagt. «Horst und ich kamen aus gegen­sätz­li­chen Welten. Am Set hatten wir eine intel­li­gen­te Spiel­freu­de — haupt­säch­lich mit Samson und Tiffy. Mit Puppen zu spielen, ist eine Heraus­for­de­rung. Mit Menschen als Gegen­über fließen Energien und Gefüh­le, es ist ein Agieren und Reagie­ren. Puppen haben dagegen keine Augen, man schaut auf ein totes Kunstfell.»

Ein Höhepunkt dieser Zeit sei der Besuch vom Muppets- und Sesam­stra­ßen-Erfin­der Jim Henson gewesen, sagt Biber­ti. «Jim bot mir an, zur «Sesam­stra­ße» nach New York zu kommen. Ich Doofi habe das nicht gemacht.» Biber­ti lebte dennoch später ein paar Jahre in New York, auch in Los Angeles und Paris.

Biber­ti spiel­te viel, etwa mehrmals im «Tatort», schrieb an Serien mit («Im besten Alter», «Solaris TV — Der freund­li­che Sender im All») und führte oft Regie, bevor sie ab 2005 vorüber­ge­hend damit aufhör­te, um ihre kranken Eltern zu pflegen. Daraus entstan­den ihre Bücher «Hilfe, meine Eltern sind alt» und (gemein­sam mit dem frühe­ren Bremer Bürger­meis­ter Henning Scherf) «Das Alter kommt auf meine Weise».

Zurzeit schreibt sie ein drittes Buch: «Sterbe­fein ins Leben». Darin soll es darum gehen, ein pralles Leben zu führen. «Durch Corona haben wir alle die Erfah­rung gemacht, dass wir sterb­lich sind, egal, wie alt wir sind. Nach Corona will ich auch weiter als Schau­spie­le­rin arbei­ten. Wir brauchen charak­ter­star­ke Vorbil­der von älteren Frauen. Und ich werde wieder Vorträ­ge anbie­ten — eine Art umgekehr­te «Sesam­stra­ße». Heißt: Wie geht denn nun das Älter­wer­den? Ganz nach dem Sesam­stra­ßen-Motto: Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum…»