BERLIN (dpa) — Hundert­tau­sen­de Menschen sind aus der Ukrai­ne nach Deutsch­land gekom­men. Sie erleben die Zeit vor Weihnach­ten mit Sorgen. Aber es gibt auch Licht­bli­cke — eine ukrai­ni­sche Familie in Berlin.

Die Kerzen auf dem Advents­kranz brennen, am Fenster hängen selbst­ge­bas­tel­te Sterne und eine Krippe aus Trans­pa­rent­pa­pier. Weihnachts­de­ko überall, Plätz­chen und Kuchen auf der Kaffee­ta­fel: Rosema­rie Arzt und ihr Mann Alfons haben ihr Haus in Berlin-Tempel­hof so weihnacht­lich einge­rich­tet, wie man es sich nur vorstel­len kann. Seit fast neun Monaten leben auch die sechs­jäh­ri­ge Yeva und ihre Mutter Yuliia Holub­ka mit im Haus und teilen sich hier ein Zimmer. Nach ihrer Flucht aus der Ukrai­ne haben sie bei der Familie ein neues Zuhau­se gefunden.

Yuliia Holub­ka ist kaum zum Feiern zumute. «Es ist schwer, überhaupt daran zu denken», sagt die 36-Jähri­ge. Ihr Mann und der Rest ihrer Familie seien in der Ukrai­ne geblie­ben und dort hätten die Menschen gerade ganz andere Sorgen. «Jeden Tag lese ich die Nachrich­ten gleich nach dem Aufwa­chen. Und abends schla­fe ich damit ein.»

Berlin ist das Drehkreuz für Menschen aus der Ukraine

«In der Ukrai­ne haben wir norma­ler­wei­se zweimal Weihnach­ten gefei­ert — das katho­li­sche Fest am 25. Dezem­ber und das ortho­do­xe Weihnach­ten am 7. Januar», sagt die Katho­li­kin, deren Mann der ortho­do­xen Kirche angehört. Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj habe aber nun bereits angekün­digt, dass künftig nur noch der 25. Dezem­ber ein Feier­tag sein werde. «Dann soll die Ukrai­ne feiern wie andere Länder in Europa.»

Sie wisse noch gar nicht so recht, wie sie in Berlin feiern werde, so Holub­ka. «Wir werden schon für festli­che Stimmung sorgen», kommt ihr Violet­ta Gersh­man zuvor. Sie ist eine Freun­din aus Kindheits­ta­gen und hat die beiden nach Berlin geholt, wo sie selbst schon seit Jahren lebt. «Wir werden den Christ­mas Garden besuchen, einen Weihnachts­zir­kus und auch ein Weihnachts­pro­gramm im Fried­rich­stadt­pa­last sehen», zählt die Freun­din auf.

Holub­ka teilt ihr Schick­sal mit Hundert­tau­sen­den. Seit Kriegs­be­ginn wurde Berlin zu einem Drehkreuz für Flücht­lin­ge aus der Ukrai­ne. Rund 360 900 Menschen sind bereits dort angekom­men. «Die große Mehrheit von ihnen ist jedoch in andere Städte weiter­ge­reist», sagt ein Sprecher der Sozial­ver­wal­tung. Etwa 85 000 bis 100 000 Ukrai­ner seien in Berlin geblie­ben und zumeist privat unter­ge­kom­men, zumin­dest zeitwei­se. Ein Teil sei auch wieder zurückgekehrt.

Zuhau­se sind die Menschen ständig in Alarmbereitschaft

Doch momen­tan ist die Lage wieder sehr schwie­rig. Der Bedarf an Plätzen in Unter­künf­ten steigt wieder deutlich. Mehr als 2100 Perso­nen lebten derzeit noch im Ankunfts­zen­trum Tegel und warte­ten auf eine Unter­brin­gung, so der Sprecher. Rund 3300 Ukrai­ner leben demnach in einer Flüchtlingsunterkunft.

Holub­ka will vorerst in Berlin bleiben. Ihre Heimat­stadt Schyto­myr westlich von Kiew sei zwar weitge­hend intakt. «Eine Schule und ein Wohnheim sind zerstört», sagt Holub­ka. «Doch immer wieder gibt es Proble­me mit der Gas‑, Wasser- und Strom­ver­sor­gung. Schlimm ist auch der Lärm der Tiefflie­ger. Man weiß nie, ob es ukrai­ni­sche oder russi­sche Flieger sind», so Holubka.

Ständig seien die Menschen in Alarm­be­reit­schaft. «Kinder müssen zur Schule einen Notfall­ruck­sack mit Essen, Trinken und einer Decke mitneh­men, falls sie wieder in einen Bunker müssen», erzählt Holub­ka. «Eltern suchen die Schule für ihr Kind inzwi­schen danach aus, welche den besten Bunker hat», so die junge Mutter.

Die Erstkläss­le­rin Yeva geht auf eine Berli­ner Grund­schu­le in der Nachbar­schaft. Zusätz­li­chen Deutsch­un­ter­richt braucht sie nicht. Was gefällt ihr in der Schule am besten? «Der Bastel­raum, das Spiel­pa­ra­dies und die Büche­rei», sprudelt es aus Yeva heraus. In Berlin besuch­ten laut Bildungs­ver­wal­tung im Novem­ber rund 7000 ukrai­ni­sche Kinder und Jugend­li­che eine Schule. Davon gingen rund 4400 in sogenann­te Willkom­mens­klas­sen, um zunächst Deutsch zu lernen.

Abschied von der Gastfamilie

Yeva kriecht immer wieder auf den Schoß von Rosema­rie Arzt, kuschelt und spielt mit ihr Karten. So vertraut, als wären es Oma und Enkelin. Für Yeva hat Rosema­rie Arzt einen Advents­ka­len­der befüllt, es ist ein hölzer­ner, ehema­li­ger Schrau­ben­schrank mit vielen kleinen Kästchen aus der ehema­li­gen Schrei­ne­rei ihres Vaters. «Der Kalen­der ist das Schöns­te für Yeva. Jeden Morgen öffnet sie als erstes eine Schub­la­de», erzählt die Gastgeberin.

Es sind die letzten Tage, die Mutter und Tochter bei Rosema­rie Arzt und ihrem Mann verbrin­gen, denn die beiden haben in der Nähe eine Zweizim­mer­woh­nung gefun­den. «Einen Monat lang haben wir alles renoviert und können jetzt eigent­lich einzie­hen», so Yuliia Holubka.

«Es werden schöne Erinne­run­gen bleiben, zum Beispiel das gemein­sa­me Backen mit Yeva», sagt Arzt. Ob die Zeit auch manch­mal anstren­gend gewesen sei? «Wir sind es gewohnt, Gäste zu haben», sagt die Sänge­rin an der Deutschen Oper. Die Familie habe schon oft junge Künst­ler bei sich aufge­nom­men. «Und wir haben antizy­kli­sche Tages­ab­läu­fe. Deshalb haben wir uns manch­mal tagelang nicht gesehen», erzählt Arzt. Yuliia sei ihr zwischen­zeit­lich auch eine sehr große Hilfe gewesen. «Im Sommer, als ich sehr krank war, saß sie stunden­lang an meinem Bett.»

Die deutsche Bürokra­tie ist gewöhnungsbedürftig

Im Jobcen­ter habe man ihr nahege­legt, ihre kaufmän­ni­sche Ausbil­dung auszu­bau­en. «Eigent­lich möchte ich aber lieber festli­che Frisu­ren machen», sagt Holub­ka, die damit bereits in der Ukrai­ne ihr Geld verdient hatte. Momen­tan lernt sie Deutsch, sie versteht bereits viel, ist aber noch zu schüch­tern, um auch zu sprechen.

Einen Integra­ti­ons­kurs habe sie bereits absol­viert und vor allem viel über die deutsche Geschich­te und den Mauer­fall gelernt. An das Leben mit der deutschen Bürokra­tie habe sie sich inzwi­schen auch gewöhnt. «Es war für mich zunächst erstaun­lich, dass es für alles Briefe und Papier gibt», berich­tet die Ukrai­ne­rin, die in ihrer Heimat die meisten Forma­li­tä­ten digital erledi­gen konnte.

«Komisch war es auch am Anfang, ständig einen “Termin” zu haben», so Holub­ka über Jobcen­ter und andere Behör­den. Das habe sie aus ihrer Heimat so nicht gekannt. Beson­ders positiv sehe sie die Inter­na­tio­na­li­tät in Berlin. «Hier leben so viele verschie­de­ne Natio­nen zusam­men — ohne Proble­me», sagt Holubka.

Ob sie in die Ukrai­ne zurück­keh­ren kann, weiß Holub­ka nicht. «Ich würde gern zu Hause in der Nähe meiner Familie leben, aber ich möchte auch, dass meine Tochter eine glück­li­che Kindheit ohne Krieg erleben kann.» Obwohl Yeva nur wenige Kriegs­ta­ge erlebt habe, sei sie in der ersten Zeit bei jedem lauten Geräusch zusam­men­ge­zuckt. «Als sie gelernt hat, dass sie sich bei einer Bombar­die­rung auf den Boden knien soll, hat sie sehr geweint», erzählt die Mutter.

«Jetzt, vor dem Umzug in die eigene Wohnung, ist der Advents­ka­len­der Yevas größte Sorge. Sie hat Angst, dass sie es nicht mehr schafft, alle Türen zu öffnen», erzählt Arzt. «Aber ich habe ihr verspro­chen, dass sie uns jeden Tag besuchen kann.»

Von Anja Sokolow (Text) und Chris­toph Soeder (Fotos), dpa