BERLIN (dpa) — Nur noch ein paar Wochen, dann ist Oktober. Mehr Abwas­serü­ber­wa­chung soll helfen, der befürch­te­ten Corona-Welle zu begeg­nen. Berli­ner Forscher sind gedank­lich schon weiter.

Einen Daten­schatz stellt man sich so nicht gerade vor. Eine unschein­ba­re Plastik­fla­sche, gefüllt mit einer grünlich-braunen Flüssig­keit: Abwas­ser aus einer Berli­ner Kläran­la­ge. Aller­dings können Forsche­rin­nen und Forscher aus dem, was die meisten Menschen unbedacht im Wasch­be­cken und der Toilet­te herun­ter­spü­len, eine Menge an Infor­ma­tio­nen gewin­nen. Zum Beispiel über Krank­heits­er­re­ger wie das Corona­vi­rus. Dieses etwa schei­den Infizier­te mit Urin, Kot und teils wohl auch über den Speichel aus.

«Während Umwelt­mo­ni­to­ring in Deutsch­land noch in den Kinder­schu­hen steckt, entsteht in den USA bereits ein neuer Indus­trie­zweig», sagt der Moleku­lar­bio­lo­ge Markus Landtha­ler vom Max-Delbrück Centrum für Moleku­la­re Medizin (MDC) in Berlin. Er erzählt von neuen Start-ups, die etwa Abwas­ser­mo­ni­to­ring für Kommu­nen anbie­ten. Aus den gemes­se­nen Virus­kon­zen­tra­tio­nen lassen sich Trends von Infek­ti­ons­wel­len ablesen. Und das laut Exper­ten viel früher als mit Melde­zah­len. Auch fielen Verzer­run­gen durch das Testen weg: Während nur manche Infizier­te zum Arzt oder ins Testzen­trum gehen, muss nun mal jeder zur Toilette.

Abwas­ser-Monito­ring bald auch verstärkt hierzulande

Das haben sich in der Pande­mie schon manche Länder zunut­ze gemacht. Bürger in Öster­reich und den Nieder­lan­den zum Beispiel können sich im Inter­net anschau­en, wie sich die Lage regio­nal entwi­ckelt. Dort wird Abwas­ser vieler­orts auf Corona gecheckt. Für den dritten Herbst mit Sars-CoV‑2 ist auch hierzu­lan­de geplant, Abwas­ser verstärkt zu überwa­chen. Laut Bundes­ge­sund­heits­mi­nis­te­ri­um soll das Monito­ring auf 150 Stand­or­te ausge­wei­tet werden — als ein Baustein im Herbst-Plan.

Bereits Ende Juli seien die Sars-CoV-2-Werte im Abwas­ser an Stand­or­ten in Südhes­sen so hoch gewesen wie dort noch nie in der Pande­mie, sagt Susan­ne Lackner. Nach Einschät­zung der Profes­so­rin im Fachge­biet Wasser und Umwelt­bio­tech­no­lo­gie der TU Darmstadt ist es ein Vorbo­te dessen, was in einigen Wochen droht. Lackner arbei­tet mit in einem EU-geför­der­ten Pilot­pro­jekt zu Abwas­ser­mo­ni­to­ring mit 20 Stand­or­ten bundes­weit. 28 weite­re seien integriert über eine Förde­rung des Bundes­mi­nis­te­ri­ums für Bildung und Forschung. Basie­rend auf diesen 48 soll die Auswei­tung erfol­gen. Schon jetzt laufen auch noch Extra-Projek­te in manchen Bundes­län­dern. «Nach 2,5 Jahren Forschung ist der techni­sche Teil kein Problem mehr», sagt Lackner.

Der Ablauf der Analy­se unter­schei­det sich etwas von Labor zu Labor, ist Fachleu­ten zufol­ge aber keine Zaube­rei. Der Moleku­lar­bio­lo­ge Emanu­el Wyler aus der MDC-Arbeits­grup­pe von Landtha­ler lässt sich im Labor der Sicher­heits­stu­fe 2, geklei­det in Maske, Schutz­kit­tel und ‑handschu­he, bei den Arbeits­schrit­ten über die Schul­ter schau­en. Als Besucher darf man nichts anfas­sen. Auch wenn man sich kaum bei Abwas­ser mit Corona anste­cken könne, enthal­te es doch andere krank­ma­chen­de Viren oder Bakterien.

Dutzen­de Erreger im Blick

Seit andert­halb Jahren werden hier in Berlin-Mitte regel­mä­ßig Abwas­ser­pro­ben aus der Haupt­stadt unter die Lupe genom­men, bislang insge­samt 120. An diesem Juli-Tag ist es das letzte Mal. Den Forschern geht es nun nicht mehr vorran­gig um aktuel­le Sars-CoV-2-Nachwei­se, sondern um das größe­re Bild. Dutzen­de Erreger sind im Blick. Corona-Routine­mes­sun­gen hat ein Diagnos­tik­la­bor für die Berli­ner Wasser­be­trie­be übernommen.

Die Abwas­ser­pro­be gießt Wyler zunächst in zwei becher­ar­ti­ge Behäl­ter, um groben Schmutz heraus­zu­fil­tern. Übrig bleibt ziemlich klares Wasser, das leicht müffelt. Dann fügt der Forscher winzi­ge Eisen­kü­gel­chen hinzu: «Daran binden Erreger, die im Abwas­ser enthal­ten sind», sagt er. Deren Erbinfor­ma­ti­on wird mithil­fe einer Zentri­fu­ge extra­hiert. Es folgt ein PCR-Test, genau wie bei Corona-Nasen- und Rachen­ab­stri­chen. So wird geprüft, ob ein Erreger vorhan­den ist und in welcher Menge.

«Endlich vor die Welle kommen»

«Abwas­ser­da­ten würden helfen, endlich vor die Welle zu kommen, statt der Entwick­lung immer nur nachzu­lau­fen», sagt Lackner. Auch zuneh­mend vorkom­men­de Mutatio­nen seien erkenn­bar. So könne man auch zu einem besse­ren Bild der vorkom­men­den Virus­va­ri­an­ten kommen.

Wenn es eine Art Wetter­be­richt für die regio­na­le Verbrei­tung etwa von Corona gäbe, könnten Menschen ihr Verhal­ten anpas­sen, argumen­tier­ten Forschen­de. Aber auch Maßnah­men könnte man ablei­ten — das sei jedoch Sache der Politik. Bisher habe kein Land einen idealen Weg gefun­den, mit den Abwas­ser­da­ten umzuge­hen, sagt René Kallies vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung.

Eine einzel­ne Probe bei Wyler im Labor indes erlaubt keine schnel­le Auskunft über die Lage, wie der Forscher sagt. Es brauche den Kontext der Messrei­he, um Trends zu erken­nen. Für Wyler und seine Kolle­gen in der Grund­la­gen­for­schung steht die eigent­li­che Arbeit ohnehin noch bevor: Daten am Compu­ter auswer­ten. Es gehe schluss­end­lich darum, die Vielfalt der Viren und Bakte­ri­en in der gesam­ten Natur zu verste­hen und möglichst frühzei­tig zu erken­nen, ob etwas für Menschen gefähr­lich werden könnte.

Aber alles zu seiner Zeit. In Deutsch­land ist erst einmal noch unklar, was genau der Herbst in Sachen Abwas­ser­mo­ni­to­ring bringt. Auf Anfra­ge teilt das Bundes­ge­sund­heits­mi­nis­te­ri­um mit, die Ausge­stal­tung des Frühwarn­sys­tems sei noch in der Entwick­lung. Wie viele weite­re Stand­or­te — und welche — in den nächs­ten Wochen tatsäch­lich angeschlos­sen werden? Noch offen.

Von Gisela Gross, dpa