BERLIN (dpa) — 110 Jahre nach dem Tod von Karl May ist Deutsch­land im Bann einer Winne­tou-Debat­te. Die Kontra­hen­ten beschimp­fen sich gegen­sei­tig als Rassis­ten und Winne­tou-Killer. Wie kommt man da wieder raus?

Nach der Documen­ta gibt es jetzt schon wieder eine Debat­te, in der Kultur­staats­mi­nis­te­rin Claudia Roth höllisch aufpas­sen muss, was sie sagt. Und diesmal ist sie auch noch befan­gen: Ihre erste Liebe sei Winne­tou gewesen, gestand die Grünen-Politi­ke­rin vor Jahren in einem Inter­view. Als sie im dritten Band der «Winnetou»-Trilogie seinen drama­ti­schen Tod nachge­le­sen habe, sei sie «regel­recht krank» gewor­den. «Ich habe das ganze Bett nass geweint.»

In der derzei­ti­gen Diskus­si­on hat sich Roth noch nicht zu Wort gemel­det, aber dafür zum Beispiel Sigmar Gabri­el. «Als Kind habe ich Karl Mays Bücher geliebt, beson­ders #Winne­tou», twitter­te der ehema­li­ge SPD-Chef und Bundes­au­ßen­mi­nis­ter. Zum Rassis­ten habe ihn das nicht gemacht. «Und deshalb bleibt Winne­tou im Bücher­re­gal für meine Kinder. Und den Film schau­en wir uns auch an.»

Anders­wo in den sozia­len Netzwer­ken ist der Ton noch ein wenig rauer. Die Kontra­hen­ten beschimp­fen sich gegen­sei­tig als Rassis­ten und «woke» Winne­tou-Killer. Das Karl-May-Museum in Radebeul sprach von einer «Winne­tou-Cancel­la­ti­on». Dem einen oder anderen würde man mit Karl May gerne zurufen wollen: «Das Bleich­ge­sicht hüte seine Zunge!» Dabei ging es doch eigent­lich nur um einen Kinder­film mit dem unschul­di­gen Namen «Der junge Häupt­ling Winne­tou». Beglei­tend dazu wollte die Firma Ravens­bur­ger zwei Bücher auf den Markt bringen, zog diese dann aber zurück, als ihr klar wurde, «dass wir mit den Winne­tou-Titeln die Gefüh­le anderer verletzt haben». Seitdem steht der Vorwurf der kultu­rel­len Aneig­nung im Raum. Und schlim­mer noch: der des Rassismus.

Bücher und Filme bedie­nen sich Klischees

Unter kultu­rel­ler Aneig­nung versteht man die Übernah­me von Ausdrucks­for­men aus einer anderen Kultur, meist der einer Minder­heit. Carmen Kwasny, die Vorsit­zen­de der «Native Ameri­can Associa­ti­on of Germa­ny», kriti­siert in einem Inter­view im Deutsch­land­funk Kultur, dass «Der junge Häupt­ling Winne­tou» zahlrei­che Klischees trans­por­tie­re, zum Beispiel bei den Requi­si­ten mit Tierschä­deln und Federn. «Bei uns sieht man immer nur Tipis, Leder­klei­dung, Feder­schmuck und dieses fürch­ter­li­che India­ner­ge­heul», beklagt sie. «Jedes­mal aufs Neue: «Woowoo­woo­woo!» Uns sind da Dinge passiert, dass wir Gäste hatten aus den Verei­nig­ten Staaten, und die hatten ihre Tracht an, und Erwach­se­ne sind an uns vorbei­ge­lau­fen mit: «Woowoo­woo­woo!» Das Geräusch gibt es gar nicht.»

Dass die ameri­ka­ni­schen Urein­woh­ner bei Karl May alles andere als realis­tisch darge­stellt werden, ist unstrit­tig. Das geht schon bei Winne­tou selbst los: Von der Beschrei­bung her würde man ihn bei den bison­ja­gen­den Sioux in den Weiten der nordame­ri­ka­ni­schen Prärie veror­ten. Doch bekannt­lich ist er der Häupt­ling der Apachen. Die aber lebten in einer ganz anderen Klima­zo­ne an der Grenze zu Mexiko.

Nun war Karl May aller­dings kein Wissen­schaft­ler, sondern ein Roman­schrift­stel­ler. Seine größte Gabe war seine Fanta­sie. Als einer der ersten erfand er sich als Kunst­fi­gur neu, schuf ein media­les Ich — den mythi­schen Old Shatter­hand, der immer wieder in den Wilden Westen reist, um dort mit seinem Bluts­bru­der Winne­tou Abenteu­er zu bestehen. Das Publi­kum hing an seinen Lippen, wenn er erzähl­te, wie er dort neulich wieder 35.000 india­ni­sche Krieger befeh­ligt habe — «Kriecher», wie er als echter Sachse wohl gesagt haben dürfte. Seine Bücher waren vielleicht weniger ein Abbild Ameri­kas als ein Spiegel deutscher Sehnsüch­te im Zeital­ter der Eisen­bah­nen und Dampfschiffe.

Winne­tou ist ein deutscher Held

Man kann Karl May also durch­aus vorwer­fen, dass er Halbwahr­hei­ten über fremde Völker verbrei­te­te, um selbst groß rauszu­kom­men. Aber ist das im Ergeb­nis so schlimm? Kultur sei letzt­lich immer kultu­rel­le Aneig­nung, «und zwar bestimmt nie auf der Ebene der Wirklich­keit, die es ja so sowie­so kaum gibt, sondern immer im Sinne der Stili­sie­rung, der Verfor­mung», kommen­tiert der Litera­tur­kri­ti­ker Ijoma Mangold im Micky-Beisen­herz-Podcast «Apoka­lyp­se & Filter­kaf­fee». «Und dann kann man als nächs­tes diese Klischees wieder in Frage stellen.»

Als Folge von Mays märchen­haf­tem Erfolg — die Gesamt­auf­la­ge wird heute auf 200 Millio­nen geschätzt — wurden die ameri­ka­ni­schen Urein­woh­ner in kaum einem anderen Land der Welt so verehrt wie in Deutsch­land. Der Held ganzer Genera­tio­nen von Lesern — und Leserin­nen — war kein Deutscher, sondern der Mann im creme­far­be­nen Fransen­an­zug, ein Auslän­der von ganz weit weg. Das Land der India­ner war für den Durch­schnitts­deut­schen des Wilhel­mi­ni­schen Kaiser­reichs fast so fern wie für heuti­ge Medien­kon­su­men­ten die «endlo­sen Weiten» des Star-Trek-Universums.

«Man muss sich doch auch anschau­en: Was sind die Werte, die in Karl Mays Büchern vermit­telt werden?», meint Micha­el Petzel, Geschäfts­füh­rer des Karl-May-Archivs in Göttin­gen. «Das sind Freund­schaft, Gerech­tig­keit, auch Wider­stand gegen Unter­drü­ckung. Friedens­lie­be. Ich habe oft genug mit Menschen fortge­schrit­te­nen Alters gespro­chen, die mir gesagt haben: «Karl May hat mir nicht nur ein riesi­ges emotio­na­les Erleb­nis vermit­telt, indem ich durch ihn in eine andere Welt einge­taucht bin, sondern er hat mir ein morali­sches Gerüst gegeben, das mich mein ganzes Leben beglei­tet hat.» Das hat mich immer schwer beeindruckt.»

Vorwurf: Die Geschich­te der Indige­nen wird trivialisiert

Edel sei der Apache, hilfreich und gut. Doch auch ein positi­ves Bild kann ein Stereo­typ sein, das einer ganzen Bevöl­ke­rungs­grup­pe pauschal bestimm­te Eigen­schaf­ten zuschreibt. Tyrone White, ein im Rhein­land leben­der Indige­ner, wirft den Deutschen vor, dass bei ihnen nur Platz ist für die von Karl May entwor­fe­ne Fanta­sie — die Reali­tät werde davon komplett überla­gert. In einem inter­view mit dem Deutsch­land­funk sagt White, die Macher von «Der junge Häupt­ling Winne­tou» trivia­li­sier­ten die Geschich­te der indige­nen Völker Ameri­kas zu Unter­hal­tungs­zwe­cken. «Das ermög­licht den nicht indige­nen Menschen, uns weiter­hin als Fanta­sie­fi­gu­ren zu betrachten.»

Ähnlich sieht es der Ethno­lo­ge Markus Lindner: «Was hindert denn heute einen Drehbuch­au­tor, einen Buchau­tor, daran, fiktio­na­le Bücher oder Filme zu machen, bei denen sorgfäl­tig recher­chiert wird?», fragt der Wissen­schaft­ler im Deutsch­land­funk Kultur. Das gelte ja auch für jeden Krimiautor.

Ach du lieber Manitu — wie kommt man da nur wieder raus? Der Autor Hasnain Kazim — kein Winne­tou-Fan, wie er betont — empfiehlt folgen­de Linie: «Kritik kann man an den Büchern, an «Winne­tou», an dem Wort «India­ner», an Karl May ausüben. Doch die, die diese Kritik üben, müssen diese Bücher und den Film aushalten.»

Von Chris­toph Dries­sen, dpa