LES CAYES (dpa) — Tag für Tag wird das verhee­ren­de Ausmaß des Erdbe­bens in Haiti deutli­cher: Fast 2000 Menschen verlie­ren in dem bitter­ar­men Land ihr Leben. Und noch sind die Bergungs­ar­bei­ten nicht am Ende.

Die vorläu­fi­ge Zahl der Erdbe­ben-Todes­op­fer in Haiti ist noch einmal um mehr als 500 auf 1941 gestie­gen. Mehr als 9900 Menschen seien verletzt worden, teilte die haitia­ni­sche Zivil­schutz­be­hör­de auf Twitter mit. Einen Tag zuvor waren es noch 1419 bestä­tig­te Tote gewesen.

Die Such- und Rettungs­ar­bei­ten gingen am Diens­tag weiter, nachdem der Tropen­sturm «Grace» in der Nacht über das betrof­fe­ne Gebiet auf der südhai­tia­ni­schen Halbin­sel Tiburon hinweg­ge­fegt war und mancher­orts Überschwem­mun­gen verur­sacht hatte. Zehntau­sen­de Menschen, die im Beben ihr Zuhau­se verlo­ren hatten, konnten sich mit Zelten und Planen nur notdürf­tig schützen.

Zeichen der Hoffnung

Es gab aller­dings auch Hoffnungs­schim­mer: Am Diens­tag­mor­gen (Ortszeit), drei Tage nach dem Beben, wurden nach Angaben des Zivil­schut­zes in der Ortschaft Brefèt aus den Trümmern eines frühe­ren UN-Gebäu­des 16 Menschen lebend geborgen.

Auch kam allmäh­lich Hilfe in der Erdbe­ben­re­gi­on an. Die US-Behör­de für Entwick­lungs­zu­sam­men­ar­beit (USAID) flog nach eigenen Angaben 52 Menschen zur medizi­ni­schen Behand­lung aus. Die Kranken­häu­ser in der Gegend waren überlas­tet, schlecht ausge­stat­tet, perso­nell unter­be­setzt und selbst beschädigt.

Das Beben der Stärke 7,2 hatte sich am Samstag­mor­gen (Ortszeit) nahe der Gemein­de Saint-Louis-du-Sud östlich von Les Cayes in einer Tiefe von rund zehn Kilome­tern ereig­net. Gut 37.000 Häuser wurden laut Zivil­schutz­be­hör­de zerstört, fast 47.000 beschä­digt. Nach Unicef-Angaben waren 1,2 Millio­nen Menschen betrof­fen. Die Not war groß in dem Gebiet, das fünf Jahre zuvor von Hurri­kan «Matthew» verwüs­tet worden war. Es fehlte am Nötigs­ten. «Die humani­tä­re Lage ist sehr besorg­nis­er­re­gend», erklär­te das Büro des Interims-Premier­mi­nis­ters Ariel Henry.

Bei einem Erdbe­ben der Stärke 7,0 im Januar 2010 waren in Haiti, dem ärmsten Land Ameri­kas, mehr als 220.000 Menschen ums Leben gekom­men und mehr als eine Milli­on Menschen obdach­los gewor­den. Der Wieder­auf­bau litt stark unter Korrup­ti­on und Verschwendung.

Pande­mie und politi­sche Krise

Haitis ohnehin schwer unter­fi­nan­zier­tes Gesund­heits­sys­tem ist durch die sich zuletzt verschlim­mern­de Pande­mie überstra­pa­ziert. Hinzu kommt eine tiefe politi­sche Krise, die sich nach der Ermor­dung des Staats­prä­si­den­ten Jovenel Moïse durch eine Komman­do­trup­pe in seiner Residenz in der Nacht zum 7. Juli noch verschärft hat. Kämpfe zwischen Banden um Terri­to­ri­um legen Teile der Haupt­stadt Port-au-Prince immer wieder lahm und trieben allein im Juni nach UN-Zahlen rund 15.000 Menschen in die Flucht.

Banden kontrol­lie­ren auch die Haupt­stra­ße in den Süden des Landes und blockie­ren sie. Die Regie­rung und UN-Vertre­ter hätten ausge­han­delt, dass zwei Hilfs­kon­vois die Straße befah­ren dürften, teilte die UN-Agentur zur Koordi­nie­rung humani­tä­rer Hilfe (OCHA) mit.

Die haitia­ni­sche Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on RNDDH kriti­sier­te die Katastro­phen­hil­fe der Regie­rung als «totales Chaos». «Sie sind völlig sich selbst überlas­sen», hieß es hinsicht­lich der Erdbe­ben­op­fer. Im Sturm seien viele der wenigen Zelte und Planen geris­sen, so dass sie «nun wirklich gar kein Dach über dem Kopf mehr haben», sagte Sibil­le Buehl­mann von der Organi­sa­ti­on Handi­cap Inter­na­tio­nal aus Port-au-Prince der Deutschen Presse-Agentur. Auch in den noch stehen­den Häusern in der Erdbe­ben­re­gi­on schla­fe niemand mehr — weil sie insta­bil gewor­den sein könnten und wegen ständi­ger Nachbeben.