BERLIN (dpa) — Mitten in der Energie­kri­se will die Regie­rung ihre wohl größte Sozial­re­form auf den Weg bringen. Der Staat soll Arbeits­lo­sen und Bedürf­ti­gen künftig mehr auf Augen­hö­he gegenübertreten.

Mit dem Bürger­geld will das Bundes­ka­bi­nett an diesem Mittwoch die zentra­le Sozial­re­form der Ampel-Koali­ti­on auf den Weg bringen.

Die Minis­ter­run­de will dazu einen Gesetz­ent­wurf von Bundes­ar­beits­mi­nis­ter Huber­tus Heil (SPD) beschlie­ßen. Damit soll der Weg für das parla­men­ta­ri­sche Verfah­ren freige­macht werden. «Mit dem Bürger­geld werden wir Hartz IV überwin­den», sagte der Grünen-Frakti­ons­vi­ze Andre­as Audretsch der Deutschen Presse-Agentur.

Die Regel­sät­ze des Bürger­gelds, das am 1. Januar das bestehen­de Hartz-IV-System ablösen soll, sollen um rund 50 Euro im Vergleich zu heute steigen. Das hatten die Koali­ti­ons­spit­zen bereits mit ihrem dritten Entlas­tungs­pa­ket beschlos­sen. Zugleich soll der Umgang der Jobcen­ter mit den Bezie­he­rin­nen und Bezie­hern von Grund­si­che­rung spürbar milder werden.

Sanktio­nen:

Wer nicht mit dem Jobcen­ter koope­riert, muss den Plänen zufol­ge weniger Sanktio­nen fürch­ten. Solche Sanktio­nen waren bereits im Vorfeld gesetz­lich ausge­setzt worden. Nun sollen die Möglich­kei­ten zur Kürzung der Leistun­gen generell stark einge­schränkt werden. So sollen künftig im ersten halben Jahr nur einge­schränkt Leistungs­min­de­run­gen möglich sein, wenn jemand Termi­ne beim Jobcen­ter versäumt hat. Bei sogenann­ten Pflicht­ver­let­zun­gen hinge­gen, wenn also eine zumut­ba­re Arbeit nicht angenom­men wurde, soll es im ersten halben Jahr gar keine Sanktio­nen mehr geben.

Anrei­ze:

«Statt auf demoti­vie­ren­de, häufig kontra­pro­duk­ti­ve Sanktio­nen setzt das Bürger­geld auf positi­ve Anrei­ze», sagte Audretsch. Geplant ist etwa eine Weiter­bil­dungs­prä­mie von 150 Euro. Heil hatte in Inter­views die Bedeu­tung solcher Anrei­ze betont und gesagt, dass zwei Drittel der Langzeit­ar­beits­lo­sen keine abgeschlos­se­ne Berufs­aus­bil­dung hätten. Nur durch Quali­fi­zie­rung könne der Weg aus der Bedürf­tig­keit in Arbeit eröff­net werden.

Vermö­gen:

Zwei Jahre lang soll man bis zu 60 000 Euro Vermö­gen haben dürfen, auch wenn man Bürger­geld bezieht. Zudem können Leistungs­be­zie­her in dieser Zeit in ihrer Wohnung bleiben, auch wenn sie eigent­lich als zu groß gilt. Nach 24 Monaten Bürger­geld­be­zug sollen Vermö­gen und Angemes­sen­heit der Wohnung überprüft werden können. Dabei soll mehr Vermö­gen als bisher unange­tas­tet bleiben.

Koope­ra­ti­on:

Wichtig ist den Koali­tio­nä­ren, dass Jobcen­ter den Betrof­fe­nen «auf Augen­hö­he» begeg­nen sollen, wie sie es schon in ihrem Koali­ti­ons­ver­trag geschrie­ben haben. Am Anfang soll ein Koope­ra­ti­ons­plan erarbei­tet werden. Was wünscht sich der oder die Arbeits­lo­se für den weite­ren Werde­gang? Besser als bisher sollen diese Wünsche berück­sich­tigt werden. Audretsch macht noch auf eine andere geplan­te Neuerung aufmerk­sam: «Künftig werden alle von den Jobcen­tern in freund­li­chen, klaren Sätzen angeschrie­ben», sagt er. «Keine komple­xen Rechts­tex­te, keine Rechts­fol­gen­be­leh­run­gen, die häufig wie Drohun­gen wahrge­nom­men werden.»

Höhe der Regelsätze:

Darüber war in der Koali­ti­on gerun­gen worden. Klar war, dass die Menschen wegen der hohen Infla­ti­on entlas­tet werden sollten — offen war nur, wie stark und durch welchen Mecha­nis­mus. Der Koali­ti­ons­aus­schuss hatte sich Anfang Septem­ber darauf verstän­digt, dass der Satz um 50 Euro steigen soll. 502 Euro monat­lich sollen es etwa für Allein­ste­hen­de sein.

Bsirs­ke fordert mehr Geld für Jobcenter:

Der Grünen-Arbeits­markt­ex­per­te Frank Bsirs­ke macht auf die «großen Heraus­for­de­run­gen» für die Jobcen­ter aufmerk­sam. Diese seien nicht nur wegen der Einfüh­rung des Bürger­gelds gefor­dert, sondern auch wegen der Integra­ti­on von hundert­tau­sen­den Geflüch­te­ten aus der Ukrai­ne. «Umso wichti­ger ist es, dass sie mit ausrei­chend Finanz­mit­teln ausge­stat­tet werden», forder­te Bsirs­ke. «Das ist mit dem vorlie­gen­den Haushalts­ent­wurf noch nicht gesichert.» Der frühe­re Chef der Gewerk­schaft Verdi forder­te: «Hier muss deutlich nachge­bes­sert werden.»

Union sieht in Bürger­geld Fehlanreiz:

CSU-Landes­grup­pen­chef Alexan­der Dobrindt kriti­sier­te in der «Augsbur­ger Allge­mei­nen», der Grund­satz des Forderns und Förderns werde durch das Bürger­geld weiter einge­schränkt. «Das kann gerade dazu führen, dass der Leistungs­be­zug zemen­tiert wird und Demoti­va­ti­on statt Arbeits­auf­nah­me geför­dert wird», warnte Dobrindt. Der sozial­po­li­ti­sche Sprecher der Unions­frak­ti­on, Stephan Stracke (CSU), kriti­sier­te in der «Rheini­schen Post» ebenfalls: «Mit dem Bürger­geld wird Nicht­ar­beit deutlich attraktiver.»

Linke-Frakti­ons­vi­ze Susan­ne Ferschl nannte das Bürger­geld trotz einiger Verbes­se­run­gen «Armut per Gesetz». Die geplan­te Erhöhung gleiche nur infla­ti­ons­be­ding­te Mehrkos­ten aus, sagte sie der «Augsbur­ger Allge­mei­nen». Der Regel­satz müsse mindes­tens um 200 Euro zuzüg­lich Strom­kos­ten steigen, forder­te Ferschl.

Von Basil Wegener, dpa