LONDON (dpa) — Fast 45.000 Zuschau­er sorgen im Wembley-Stadi­on von London für Gänse­haut-Atmosphä­re beim Klassi­ker England gegen Deutschland.

Aus! Vorbei! EM‑K.o.! Joachim Löw muss nach einer schmerz­haf­ten Wembley-Schlap­pe zwölf Tage zu früh in die Bundestrainer-Rente.

Aggres­si­ve Englän­der haben den Traum vom vierten deutschen Europa­meis­ter-Titel abrupt zerstört und die einst glanz­vol­le Ära des Weltmeis­ter-Coaches im EM-Achtel­fi­na­le vor dem ersehn­ten letzten Endspiel-Date beendet.

55 Jahre nach dem legen­dä­ren WM-Endspiel 1966 brauch­ten die Three Lions am Diens­tag­abend kein histo­risch zweifel­haf­tes Latten­tor, um die deutsche Fußball-Natio­nal­mann­schaft erstmals wieder in einem entschei­den­den Turnier­spiel zu bezwin­gen. Löw hatte wieder einmal, als es schief lief, keinen Plan B parat.

Sterling und Kane sorgen für DFB-Aus

Raheem Sterling (75. Minute) und Harry Kane mit seinem ersten EM-Treffer (86.) erziel­ten vor 45.000 eupho­ri­sier­ten Fans die Tore zum 2:0 (0:0)-Sieg der Englän­der gegen eine in der spannungs­ge­la­de­nen Stimmung viel zu harmlo­se DFB-Elf. Für Rekord­coach Löw endet die DFB-Zeit nach fast 15 Jahren und 198 Länder­spie­len als Bundes­trai­ner mit einer herben Enttäuschung.

Thomas Müller vergab in der 81. Minute bei einer der wenigen deutschen Tormög­lich­kei­ten die Chance auf den zwischen­zeit­li­chen Ausgleich. Während die DFB-Elf nur zum Koffer­pa­cken nach einem Turnier mit mehr Schat­ten als Licht noch einmal ins EM-Quartier in Herzo­gen­au­rach zurück­kehrt, um dann frustriert den Sommer­ur­laub anzutre­ten, geht die EM-Reise der Englän­der weiter. Am Samstag soll im Viertel­fi­na­le gegen Schwe­den oder die Ukrai­ne in Rom das Ticket für die nächs­te Wembley-Partie im Halbfi­na­le gelöst werden. Der 11. Juli steht als Endspiel-Tag ganz dick im engli­schen Fußball-Kalender.

Löw und seine glück­lo­sen DFB-Stars haben hat dann ungewollt frei. Im Septem­ber startet Hansi Flick als neuer Bundes­trai­ner mit der Fortset­zung der WM-Quali­fi­ka­ti­on für Katar 2022 ein neues Kapitel — viel Arbeit wartet nach der EM-Enttäu­schung auf den einsti­gen Löw-Assis­ten­ten und Bayern-Erfolgs­coach. Unmit­tel­bar vor der Partie hatte Löw noch ein Anlie­gen geäußert. «Kein Trainer wünscht sich ein Elfme­ter­schie­ßen, das ist immer ein Vaban­que-Spiel», sagte der Bundes­trai­ner — doch diesen Ausgang hat er sich nicht gewünscht.

Kollek­ti­ver Kniefall vor Beginn

Die Deutschen traten nur zu Beginn engagiert auf, nachdem beide Teams schon vor dem Anpfiff ein starkes Zeichen gesetzt hatten. Dem gemein­sa­men Kniefall der Spieler schloss sich Löw an. Der 61-Jähri­ge ging wenige Sekun­den vor dem Anstoß wie auch sein engli­scher Kolle­ge Gareth South­ga­te als Zeichen gegen Rassis­mus mit einem Knie auf den Boden. Wieder gab es verein­zel­te Buhru­fe während der Geste, die überwie­gen­de Mehrheit der bis zu 45.000 Zuschau­er und Zuschaue­rin­nen im Wembley-Stadi­on klatsch­te jedoch lautstark Beifall.

Überhaupt diese Atmosphä­re im engli­schen Fußball-Tempel! Schon Stunden vor der Partie feier­ten Fans rund um das Stadi­on eine feucht-fröhli­che Party. Auf den Sitzen waren auch schwarz-rot-golde­ne Fahnen ausge­legt, die fast ausschließ­lich einhei­mi­schen Fans sangen und lärmten und zelebrier­ten eine ausge­las­se­ne EM-Sause. Seit Novem­ber 2019 hatte eine deutsche Natio­nal­mann­schaft wegen der Corona­vi­rus-Pande­mie nicht mehr vor solch einer Kulis­se gespielt.

In der Anfangs­pha­se beflü­gel­te dies die DFB-Elf. Leon Goretz­ka, der bei seinem ersten Start­elf-Einsatz bei diesem Turnier wie erwar­tet Ilkay Gündo­gan (Schädel­prel­lung) ersetz­te, war nach einem feinen Pass von Thomas Müller kurz vor der Straf­raum­gren­ze nur durch ein Foul zu stoppen (8.). Den Freistoß aus zentra­ler Positi­on schoss Kai Havertz aber in die engli­sche Mauer. Neben Goretz­ka war auch Havertz’ Chelsea-Kolle­ge Timo Werner neu in die Start­elf gerückt. Der Angrei­fer hatte nach einer guten halben Stunde die beste Chance zur Führung, schei­ter­te aber an Keeper Jordan Pickford (32.). Zwanzig Minuten vor Schluss musste Werner raus, für ihn kam Serge Gnabry.

Zwischen den beiden Chancen und in der Viertel­stun­de vor der Halbzeit dominier­ten aber die Englän­der. Die Deutschen verlo­ren zu viele Zweikämp­fe im Mittel­feld, die Three Lions spiel­ten aggres­si­ver und erarbei­te­ten sich zeitwei­se ein deutli­ches Überge­wicht. Löw verschränk­te die Arme. Löw winkte frustriert ab. Was er da auf dem heili­gen Rasen sah, konnte ihm überhaupt nicht gefal­len. Sinnbild­lich stand zu diesem Zeitpunkt Bayern-Profi Müller, der (zu) viel im leeren Raum rannte und versuch­te, seine Mitspie­ler anzutreiben.

Doch Joshua Kimmich beispiels­wei­se war ständig in der Defen­si­ve gebun­den und konnte offen­siv kaum Akzen­te setzen. Dies gelang den Englän­dern besser. Sterling schei­ter­te mit einem Schuss an Torwart Manuel Neuer, der wie sein Gegen­über Harry Kane eine Kapitäns­bin­de in Regen­bo­gen­far­ben als Zeichen für Toleranz und sexuel­le sowie geschlecht­li­che Vielfalt trug (16.). Der bislang im Turnier recht glück­lo­se Angrei­fer von Totten­ham Hotspur hätte die Deutschen dann kurz vor dem Wechsel beina­he bestraft.

Nach einem Fehlpass von Müller drang Sterling in den Straf­raum ein. Der Rettungs­ver­such von Matthi­as Ginter lande­te bei Kane, der Neuer schon überlis­tet zu haben schien — ehe Mats Hummels mit einer eindrucks­vol­len Grätsche den fast siche­ren 0:1‑Rückstand verhin­der­te (45.+2). Hummels war um defen­si­ve Stabi­li­tät bemüht — konnte die beiden Gegen­to­re aber auch nicht verhindern.

Auch im Presti­ge­du­ell mit den Englän­dern hielt Löw an seiner Grund­for­ma­ti­on im 3–4‑3 System fest. Sein Kolle­ge Gareth South­ga­te änder­te sein System und stell­te in der Abwehr auf eine Dreier­ket­te um, die wenige Minuten nach Wieder­an­pfiff fast bezwun­gen war.

Doch den großar­ti­gen Dropkick von Havertz lenkte Pickford reakti­ons­schnell über die Latte (48.). Wieder gehör­te die Anfangs­pha­se vor den Augen von Prinz William (39), dessen Frau Kate (39) und Sohn George (7) sowie Popstar Ed Sheeran (30, «Shape Of You») und Ex-Fußball­star David Beckham (46) dem DFB-Team — wieder aber währte die Drang­pha­se zu kurz. Statt­des­sen sorgten der starke Sterling und Kane mit seiner Turnier­pre­mie­re für den deutschen K.o.

Von Arne Richter, Nils Bastek und Wolfgang Müller, dpa