An ihrem ersten Arbeitstag zieht Leia ihre Büroschuhe an, packt ihren kleinen Trolley und los geht‘s. Acht Stunden im Büro. Am Abend erzählt sie ihrer Mutter stolz: „Mama, heute haben wir richtig was geschafft!“ Leia ist bald vier Jahre alt und ihre Mutter Birgit Szielasko Teamleiterin bei Vetter Pharma in Ravensburg.
Aber ein Kind im Büro, womöglich sogar im Großraumbüro – das kann zu Ärger führen. Mit Kollegen, Mitarbeitern und Vorgesetzen. Im Lärm oder der Unordnung, die die Kinder eventuell machen, liegt Konfliktpotenzial. Ebenso wie darin, dass dieses „Recht“, den Nachwuchs mitzubringen, dann gegebenenfalls auch andere für sich beanspruchen möchten. Auf der anderen Seite ist Home Office aber nicht immer uneingeschränkt möglich und die Anwesenheit im Betrieb aus verschiedenen Gründen erforderlich oder erwünscht.
Ganz abgesehen davon, dass Kinder am Arbeitsplatz erst einmal nichts zu suchen haben. „“In rechtlicher Hinsicht ist es grundsätzlich nicht erlaubt, Kinder mit an den Arbeitsplatz zu bringen”, erklärt Dr. Theo Rezbach, Fachanwalt für Arbeitsrecht aus Ravensburg. „Davon kann man abweichen, wenn der Arbeitgeber explizit einverstanden damit ist.“
Die kleine Leia hat ihren Arbeitstag daher in einem Eltern-Kind-Büro verbracht. Dabei handelt es sich um spezielle Einzelbüros, die in Betreuungs-Notfällen stundenweise oder tageweise in Anspruch genommen werden können. Im Idealfall sind diese mit allem ausgestattet, was arbeitende Eltern benötigen: Spielzeug, Malsachen, Wickelkommode, Internet, Arbeitsplatz — und eine Tür zu den Kolleg*innen, die man für diesen Tag schließen kann.
„Für mich ist das eine große Erleichterung und ich freue mich, das nutzen zu können“, sagt Birgit Szielasko. „Und für meine Tochter ist es eine sehr positive Erfahrung. Sie war ganz stolz und hat sich total wichtig gefühlt.“
Simba, Mogli und Arielle heißen die drei Eltern-Kind-Büros, die in der neuen Zentrale der Vetter Pharma-Fertigung GmbH & Co. KG zu finden sind. Vetter ist ein weltweit operierender Pharma-Dienstleister und spezialisiert auf die Herstellung und Verpackung aseptisch vorgefüllter Spritzensysteme. Neben Schreibtisch und Internetzugang für die Eltern, ist die Mogli-Einrichtung vor allem kindgerecht: ein kleiner Tisch mit passendem Stuhl, Reisebett, rutschfeste Matte, Waschbecken und eine so genannte Kidsbox – gefüllt mit Spielen, Büchern, Bauklötzchen und so weiter. Die Gründe, warum Eltern das Büro buchen, sind vielfältig: Der Kindergarten fällt für einen Tag aus, die Oma ist krank, die Hausaufgaben sollen zwischen Schule und Zuhause gemacht werden oder der Partner/die Partnerin hat einen Arztbesuch und bringt das Kind für eine Stunde vorbei.
„Ich halte Eltern-Kind-Büros für eine gute Möglichkeit, Eltern bei der Kinderbetreuung zusätzlich zu den regulären Betreuungsangeboten zu unterstützen“, sagt die baden-württembergische Wirtschaftsministerin Dr. Nicole Hofmeister-Kraut. „Besonders in Ausnahmesituationen, wenn zum Beispiel der Unterricht ausfällt. Oder wenn die Eltern kurzfristig arbeiten müssen und deshalb keine Kinderbetreuung gewährleistet ist und auch nicht so schnell organisiert werden kann. Genau in solchen Fällen kann ein Eltern-Kind-Büro die Eltern kurzfristig entlasten. Sie können so im Beisein der Kinder im Betrieb arbeiten, während die Kinder spielen, schlafen oder Hausaufgaben machen.“ Nicht alle Firmen können oder wollen sich eigene Kitas oder Zuschüsse leisten. Ein freies Zimmer umzuwandeln, ist da vielleicht eine attraktive Alternative.
Für Vetter seien die Eltern-Kind-Büros ein „riesiger Zugewinn“, sagt Eike Schönau, Abteilungsleiter Employer Branding bei Vetter. Und eine weitere Option, die sein Unternehmen bietet, wenn es zum Beispiel um die Gewinnung neuer Fachkräfte geht. „Wir haben einen Bewerbermarkt. Bewerberinnen und Bewerber können sich heutzutage genau anschauen, welche Firma für sie in Frage kommt. Da ist ein Eltern-Kind-Büro eine weitere Maßnahme in einem wertigen Gesamtpaket. Wir investieren viel in neue Mitarbeiter und darin, unsere bestehenden Arbeitnehmer zu halten.“ Dazu gehören nicht nur die Eltern-Kind-Büros, sondern auch Weiterbildungen, Aufstiegsmöglichkeiten, Kindergartenplätze, Ferienbetreuung, Betriebssport und sogar ein Firmen-Chor.
Und wie ist es bei anderen Unternehmen? Beim Outdoor-Ausrüster VAUDE Sport GmbH & Co. KG aus Tettnang herrscht eine ungewöhnlich offene und unkomplizierte Familien-Politik. Spezielle Eltern-Kind-Büros gibt es nicht, doch Pressesprecherin Birgit Weber betont: „Kinder sind bei uns immer willkommen. Wir sind so flexibel, dass in Notfällen immer etwas improvisiert werden kann.“ So sei es keine Seltenheit, dass Kinder durch die Flure rennen.
Die Hensoldt AG, Rüstungs-Experte mit weltweit über 5.500 Mitarbeitern, hat vor knapp einem Jahr an seinem größten Standort Ulm ein Eltern-Kind-Büro eingerichtet. Dort erfolgt die Buchung bequem über Outlook. Eine Nutzung steht allen Beschäftigten mit Kindern bis zum Alter von 14 Jahren offen. Für Hensoldt hat sich die Einrichtung des Eltern-Kind-Büros aus Unternehmenssicht laut Peter Schlote, Chief Operating Officer und Standortleiter „absolut gelohnt“. Er betont: „Wir setzen damit ein Zeichen als familienfreundliches Unternehmen, das die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglicht und fördert.“ Daher setzt Hensoldt weiter auf Eltern-Kind-Büros: Noch in diesem Jahr wird ein weiteres am Standort Immenstaad am Bodensee eröffnet.
Anwalt Dr. Theo Rezbach gibt zu bedenken, dass es bei der Einrichtung solcher Büros etliche rechtliche Fragen zu beachten gilt: Wer haftet, wenn das Kind etwas kaputt macht? Oder das Kind sich verletzt? Er empfiehlt daher, haftungsrechtliche Fragen vorab anwaltlich abklären zu lassen. Vetter hat eigens eine Nutzungsordnung entwerfen lassen, die die Eltern unterscheiben müssen.
Wirtschaftsministerin Dr. Hofmann-Kraut ist selbst Mutter von drei Kindern. Diese sind in einem Alter, in dem das Mitbringen zur Arbeit nicht mehr notwendig ist. Aber die Ministerin sagt: „In einer Ausnahmesituation hätte ich früher sicherlich auch einmal darauf zurückgegriffen.“ Und die kleine Leia? Die freut sich laut ihrer Mama schon auf den nächsten Arbeitstag.
Von Julia Rizzolo
Zur Person
Dr. Nicole Hofmeister-Kraut
wurde 1972 in Balingen geboren. Dort ist sie Gesellschafterin der Bizerba SE & Co. KG. Seit Mai 2016 ist die Diplom-Kauffrau Mitglied des Landtags von Baden-Württemberg und Ministerin für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau.
Zur Person
Eike Schönau
ist Abteilungsleiter für Employer Branding und Talent Acquisition bei Vetter. Der Jeveraner ist seit 2014 im Unternehmen und war zuvor unter anderem beim TV-Sender Sky beschäftigt.
Betriebliche Kinderbetreuung in Deutschland
In Deutschland gibt es 762 Tageseinrichtungen für Kinder von Betriebsangehörigen. Dies sind mehr als doppelt so viele wie im Jahr 2006. Laut einer Umfrage der berufundfamilie Service GmbH sehen rund 85 Prozent der befragten Arbeitgeber, dass bei der Generation Y (geboren zwischen 1980 und 1996) der Wunsch nach passgenauen Vereinbarkeitslösungen von Familie und Job besonders stark ausgeprägt ist. Die berufundfamilie Service GmbH bietet das „audit berufundfamilie“ an, in dem Bedarf und Optimierung der Vereinbarkeit analysiert und optimiert werden. Vom Bundesfamilienministerium gibt es seit September 2020 das Förderprogramm „Betriebliche Kinderbetreuung“.
Vetter Pharma
Der Pharma-Dienstleister Vetter aus Ravensburg beschäftigt weltweit rund 5.000 Mitarbeiter. Im April 2020 wurden die neue Unternehmenszentrale bezogen. Dort arbeiten in normalen Zeiten rund 600 Mitarbeiter, für 400 weitere ist Platz. Von den 275 Büros in dem sechsstöckigen Gebäude stehen drei als Eltern-Kind-Büros zur Verfügung. Die Investitionskosten lagen bei 50 Millionen Euro. Das Betriebs-Restaurant „Atrium“ bietet 500 Indoor- und 100 Outdoor-Plätze. Ab Frühjahr 2021 wird es gut 350 überdachte Rad-Stellplätze mit integrierter eine E‑Bike-Ladestation geben. Der Umsatz des Familienunternehmens lag 2019 bei rund 670 Millionen Euro. Für 2020 rechnet Vetter mit rund 730 Millionen Euro Umsatz