HERZOGENAURACH (dpa) — Schon wieder beklagt der deutsche Fußball einen frühen Turnier‑K.o. Anders als nach dem WM-Debakel 2018 konzen­trie­ren sich die Debat­ten auf das Poten­zi­al der Spieler — die Trainer­fra­ge ist geklärt.

Tief in der Nacht kehrten Joachim Löw und seine von England entzau­ber­ten EM-Spieler noch einmal in den «Home Ground» zurück.

Abschied nehmen hieß es im fränki­schen Quartier, vom Turnier und vor allem vom schei­den­den Bundes­trai­ner, für den das 0:2 im Achtel­fi­na­le im Londo­ner Wembley­sta­di­on das letzte Länder­spiel war — weit vor dem anvisier­ten Endspiel am 11. Juli.

An einen ruhigen Schlaf war nicht zu denken. Am Mittmoch­mor­gen lud der Deutsche Fußball-Bund zu einer Abschluss­pres­se­kon­fe­renz, auf der sich Löw gemein­sam mit DFB-Direk­tor Oliver Bierhoff noch einmal zum frühen Turnier-Aus äußern wollte.

Verge­be­ne Großchan­ce raubt Müllers Schlaf

Inner­lich aufge­wühlt war und ist beson­ders auch Thomas Müller. Nach seiner verge­be­nen Großchan­ce zu einem mögli­chen 1:1‑Ausgleich in der 81. Minute melde­te sich der 31 Jahre alte Angrei­fer am frühen Mittwoch­mor­gen mit einer bewegen­den Insta­gram-Botschaft zu Wort. «Da war er, dieser eine Moment, der dir am Ende in Erinne­rung bleibt, der dich nachts um den Schlaf bringt. Für den du als Fußbal­ler arbei­test, trainierst und lebst», schrieb der Bayern-Profi. Direkt nach dem EM-Aus hatte er nicht gesprochen.

Der Rückkeh­rer, der gemein­sam mit Mats Hummels ein DFB-Comeback zum Turnier erleben durfte, leidet: «Dieser Moment, wenn du es allei­ne in der Hand hast, deine Mannschaft in ein enges K.o.-Spiel zurück­zu­brin­gen und eine ganze Fußball­na­ti­on in Eksta­se zu verset­zen. Diese Möglich­keit zu bekom­men und sie dann ungenutzt zu lassen, tut mir verdammt weh.» Im Laufe des Tages geht es für Müller und seine ebenfalls tief enttäusch­ten 25 Teamkol­le­gen in den Urlaub statt weiter zum Viertel­fi­na­le nach Rom gegen den Außen­sei­ter Ukraine.

Um kurz vor 1.00 Uhr war die DFB-Charter­ma­schi­ne in Nürnberg gelan­det. Löw stieg als Erster aus, in Bussen und Vans ging es danach — eskor­tiert von zwei Polizei­wa­gen — weiter ins nahe Herzogenaurach.

Ende einer Ära

Die Tragwei­te der Nieder­la­ge in Wembley war manchem wohl erst auf der eiligen Heimrei­se aus England so richtig klar gewor­den. Eine Ära ist zu Ende. Eine große Titel­chan­ce und ein damit verbun­de­ner ehren­vol­ler Abschied für Löw wurde zu früh und zu leicht­fer­tig vertan. «So, that’s it. Die EM ist für uns vorbei. Und ich sitze hier im Bus und will es nicht wahrha­ben», schrieb Vertei­di­ger Hummels auf seinen Social-Media-Kanälen. Der Dortmun­der ahnte noch in London, dass es Kritik hageln dürfte. «Es ist schon klar, dass jetzt alles nieder­ge­re­det wird.» Das Turnier müsse aber auch er «jetzt alles in allem leider als Enttäu­schung abhaken».

Mit dem Abschied von Löw endet nach 15 Jahren die längs­te Strecke eines Bundes­trai­ners. Sieben Turnie­re sind unerreicht. Auch wenn die letzten beiden im Schock­zu­stand (WM 2018) oder einem Gefühl der großen Unzufrie­den­heit (EM 2021) endeten. Der 2014 noch gefei­er­te damali­ge Weltmeis­ter-Coach Löw übergibt die DFB-Elf an seinen frühe­ren Assis­ten­ten Hansi Flick mitten in einem nicht abgeschlos­se­nen Transformationsprozess.

Wie geht es weiter unter Flick?

Flick wird klare und kluge Entschei­dun­gen treffen müssen. Mit wem soll Deutsch­land die Rückkehr zur Fußball-Dominanz gelin­gen? Es wird Gesprä­che geben. Toni Kroos (31)? Ist nicht mehr sakro­sankt. Ilkay Gündo­gan (30)? Fand keine Bindung zum Team. Die glück­lo­sen Rückkeh­rer Hummels (32) und Thomas Müller (31)? Werden sie womög­lich diesmal selbst entschei­den, bevor sie erneut auf’s Abstell­gleis gescho­ben werden? Bei Kapitän Manuel Neuer (35) gibt es keine Anzei­chen, dass er Schluss macht.

Rekord­na­tio­nal­spie­ler Lothar Matthä­us, der Flick gut kennt und mit ihm befreun­det ist, rechnet mit einem eher sanften Umbruch. Und er ist überzeugt, dass der bishe­ri­ge Bayern-Coach Müller «sicher nicht aussor­tie­ren» werde, wie Matthä­us in seiner «Sport Bild»-Kolumne schrieb: «In einein­halb Jahren startet die WM in Katar, dort muss er eine schlag­kräf­ti­ge Mannschaft haben. Zu dieser wird Thomas gehören. Denn Hansi will nicht alles auf ein Langzeit­pro­jekt und die EM 2024 in Deutsch­land ausrich­ten, er will schon im Winter 2022 in Katar Erfol­ge feiern, Weltmeis­ter werden.»

Im Septem­ber geht aber erst einmal die WM-Quali­fi­ka­ti­on gegen Liech­ten­stein, Armeni­en und Island weiter. Deutsch­land muss auf dem Weg nach Katar als klarer Gruppen­fa­vo­rit von Platz drei aus aufho­len. Flick wird also nicht viel auspro­bie­ren können. Muss er auch nicht. Denn das Grund­ge­rüst mit viel Talent gerade in der Offen­si­ve (Kai Havertz, Serge Gnabry, Leroy Sané, Jamal Musia­la) steht. «Wir haben eine Reihe junger Spieler, die in den nächs­ten zwei, drei Jahren nochmal einen großen Schritt nach vorne machen werden», sagte Löw. Reife war sein Wort in Wembley, die dem Team noch fehle.

Neuer Platz­hir­sche Kimmich und Goretzka?

Und die Platz­hir­sche hat der 61-Jähri­ge auch schon benannt. Joshua Kimmich und Leon Goretz­ka müssen nun wirklich in die Führungs­rol­le schlüp­fen. Beide seien «jetzt schon Leader in der Mannschaft, weil sie mit ihrem unbän­di­gen Willen voran­ge­hen», beton­te Löw. «Beide sind in der Lage, die Mannschaft in den nächs­ten Jahren zu führen und den jungen Spielern Halt zu geben.»

Und was wird aus Löw? Von einem grund­sätz­li­chen vorzei­ti­gen Ruhestand wollte er nichts wissen. Aber ein gewis­ser Abstand ist wichtig. «Von Ruhestand habe ich noch nie gespro­chen. Klar ist, dass eine Pause jetzt mal wichtig ist. Auch eine emotio­na­le Pause», sagte er.

Zumal die Enttäu­schung tief sitzt. «Vielleicht muss ich erst alles zulas­sen, Enttäu­schun­gen, die Leere, die kommt. Mit Sicher­heit gibt es neue Aufga­ben für mich, die inter­es­sant sind», sagte Löw. Er habe «keine konkre­ten Pläne». Konkre­te Pläne für Fußball-Deutsch­land braucht jetzt ein anderer, Hansi Flick.