RAVENSBURG — Ein schöner Winter­tag gegen Ende des Jahres 2000. Ein Flugzeug der gerade eröff­ne­ten Verbin­dung Fried­richs­ha­fen-Hamburg schwebt über Oberschwa­ben dem Boden­see-Airport entge­gen. An Bord: Prof. Dr. Günther J. Wiedemann, 48-jähri­ger Inter­nist aus Lübeck. „Unter mir erkann­te ich Ähnlich­kei­ten mit meiner bayeri­schen Heimat“, erzählt der gebür­ti­ge Augsburger. 

Der Moment war Anstoß dafür, ein Chefarz­t­an­ge­bot am St. Elisa­be­then-Klini­kum in Ravens­burg und nicht etwa an der Chari­té in Berlin anzuneh­men. Zumal er seinen damals 14 und 17 Jahre alten Kindern damit den „Großstadt­dschun­gel“ erspar­te. Der Aufsichts­rat der OSK hatte ihn als Nachfol­ger von Dr. Gerhard Meuret zum Chefarzt der Inneren Medizin gewählt. „Fachlich hochqua­li­fi­ziert und auch auf Grund seiner Persön­lich­keit hervor­ra­gend geeig­net“, wurde er im Novem­ber 2000 nach seiner Berufung gerühmt.

21 Jahre später hat Prof. Wiedemann seine Tätig­keit als Chefarzt beendet. Den von der Chari­té gekom­me­nen Nachfol­ger Prof. Dr. Alexan­der Wree lobt er als wahren „Glücks­fall“ für das EK. „Der Kopf muss in Bewegung bleiben“, lautet Wiedemanns Empfeh­lung für alle Menschen an der Schwel­le zum Ruhestand. Er beher­zigt es selbst. Ganz aufhö­ren möchte er auch mit 69 noch nicht. Er hat ein neues Dienst­zim­mer in der Spange der Inneren Medizin bezogen, um sich weiter­hin um Patien­ten und vor allem um den Onkolo­gi­schen Schwer­punkt am EK zu kümmern.

Diesen Schwer­punkt in der Versor­gungs­pla­nung des Landes hat es bereits gegeben, als Prof. Wiedemann nach Ravens­burg kam. Sein Spezi­al­ge­biet, die Onkolo­gie, am EK auszu­bau­en, laute­te sein Auftrag. Er hat ihn erfüllt. Das EK ist heute als Onkolo­gi­sches Zentrum zerti­fi­ziert. Beson­ders erwähnt er jedoch Anderes: „Wir sind eine der wenigen, wenn nicht gar die einzi­gen in Deutsch­land, die nieder­ge­las­se­ne Onkolo­gen mit einer oberärzt­li­chen Anstel­lung ans Kranken­haus geholt haben.“ Die Patien­ten treffen ihren Arzt aus der nieder­ge­las­se­nen Praxis im Kranken­haus wieder und erleben keinen Bruch in ihrer Behand­lung. „Wir haben Clinic Inter­face verwirk­licht“, freut sich Wiedemann.

Als Exper­te für Onkolo­gie und Hämato­lo­gie hat er sich einen Namen gemacht, ist darüber aber Inter­nist mit Leib und Seele geblie­ben. Die Innere Medizin sei für ein Kranken­haus das wichtigs­te Fach, das umfas­sen­des Basis­wis­sen und hohes Spezia­lis­ten­tum in sich vereint. Wiedemann nimmt ein Blatt Papier zur Hand. Er zeich­net oben einen Obstkorb, darun­ter zwei Leitern. Auf der einen fehlen die unteren Spros­sen, auf der anderen die oberen. „Der breit ausge­bil­de­te Inter­nist kommt nicht von allei­ne bis zur richti­gen Diagno­se, der Spezia­list aber auch nicht.“

Aus diesem Verständ­nis heraus hat er seine Klinik geführt. Für die Inter­nis­ten stehe die Ursache der Sympto­me des Patien­ten am Ende diffe­ren­zier­ter diagnos­ti­scher Arbeit, während der Chirurg von vornher­ein wisse, mit was er es zu tun hat. Der Chefarzt müsse auf allen Gebie­ten bewan­dert, aber nicht auf jedem der Spezia­list schlecht­hin sein. Ihre ganze Kompe­tenz entfal­te die Innere Medizin am EK mit den sieben Oberärz­ten, die alle Spezi­al­ge­bie­te abdecken. Dass sein Nachfol­ger Wree Gastro­en­te­ro­lo­ge ist, betra­chet der Onkolo­ge Wiedemann keines­falls als Nachteil: „Haupt­sa­che, er ist Internist.“ 

Seine Vorschuss­lor­bee­ren hat Prof. Wiedemann über zwei Jahrzehn­te lang bestä­tigt. Er war nicht nur der Chefarzt, sondern auch Labor­me­di­zi­ner, Trans­fu­si­ons­be­auf­trag­ter oder medizi­ni­scher Kopf hinter dem in Ravens­burg ausge­rich­te­ten Kongress NZW Süd. Schlag­zei­len machte er auch als Bildhau­er. Mehrfach war er in dieser Rolle im Fernse­hen zu sehen. Skulp­tu­ren von ihm stehen an mehre­ren Orten in Ravens­burg. Darun­ter die „Isle of Silence“, die er dem EK geschenkt hat. Eine in Stein gehaue­ner Mahnung, über allen vermeint­li­chen Wichtig­kei­ten des Alltags auch zur Ruhe zu kommen.

Mit der Bildhaue­rei angefan­gen hat er 2005. „Damals suchte ich eine Metho­de, um Aggres­si­on loszu­wer­den“, erzählt er. „Hammer und Meißel waren das Richti­ge. Das hat mir gehol­fen“, meint er verschmitzt. Der ARD-Beitrag „Was von mir bleibt“ von Ulrike Michels war Anstoß für etwas ganz Beson­de­res: Wiedemann hat todkran­ken Patien­ten angebo­ten, mit ihnen gemein­sam einen Grabstein zu meißeln. Eine ganz andere und eigene Art, Menschen zu helfen.

Immer wieder hat er ungewöhn­li­che Zugän­ge zu den Menschen gefun­den. Zum Beispiel mit seinem Vortrag „Das Glück reifer Männer“. Viel wurde gelacht, wenn Wiedemann mit Witz und Ironie erklär­te, weshalb das Alter keine Last sein muss. Dabei war der Hinter­grund ein ernster. Bei einer Recher­che war er auf eine Statis­tik gesto­ßen, wonach Suizid bei den Todes­ur­sa­chen der Männer auf Platz 13 liegt, noch vor Diabe­tes melli­tus. „Man muss früh damit anfan­gen, damit man überhaupt nicht in die Situa­ti­on gerät“, hat er seinem Publi­kum vermit­telt. Seine Ratschlä­ge für ein besse­res und gesun­des Leben sind für jeder­mann verständ­li­che Alltags­tipps: „Mäßig Alkohol trinken, täglich viel bewegen, nicht rauchen.“ 

Im Blick hatte er nicht nur die Älteren, sondern gerade auch die ganz Jungen. Viele Jahre lang kamen regel­mä­ßig über 100 Schüler ins Foyer des EK zu Prof. Wiedemanns Anti-Raucher-Veran­stal­tun­gen. „Angefan­gen hat es mit einem Anruf des Markdor­fer Schul­lei­ters Dr. Roland Hepting“, erinnert er sich. Er entsprach dem Wunsch, eine Veran­stal­tung zur Drogen­prä­ven­ti­on zu gestal­ten. „Daraus ist eine Freund­schaft entstan­den und es ging immer weiter.“ 

Inter­nist gewor­den ist Wiedemann eher zufäl­lig. Während seiner Zeit in Norwe­gen hatte er sich eigent­lich für die Psych­ia­trie begeis­tert. „Meiner Frau war es im hohen Norden jedoch zu kalt und zu dunkel. Sie wollte zurück nach Deutsch­land“, erzählt er. In Bremen sollte er eine Stelle in der Psych­ia­trie antre­ten, kam jedoch zu spät an. „Die Psych­ia­ter haben mich bei den Inter­nis­ten geparkt. Dann bin ich einer geworden.“ 

Zahlrei­che Aufsät­ze und Kolum­nen hat Prof. Wiedemann in verschie­de­nen Zeitschrif­ten veröf­fent­lich. Das soll auch so bleiben. Genau­so, wie er weiter­hin in der Arznei­mit­tel­kom­mis­si­on der deutschen Ärzte­schaft mitar­bei­ten möchte. „Ich mache weiter, nur, dass ich eben nicht mehr Chefarzt bin.“ Ein bisschen Abschied, aber kein Rückzug.