WEINGARTEN — Rund 500 Gäste aus der Region zwischen Alb und Boden­see kamen am vergan­ge­nen Donners­tag zum Neujahrs­emp­fang der Indus­trie- und Handels­kam­mern Boden­see-Oberschwa­ben und Ulm in das Kultur- und Kongress­zen­trum Weingar­ten. Ehren­gast und Festred­ner war Martin Schulz, Vorsit­zen­der der Fried­rich-Ebert-Stiftung e. V. und langjäh­ri­ger Präsi­dent des Europäi­schen Parlaments.

Martin Buck, Präsi­dent der Indus­trie- und Handels­kam­mer (IHK) Boden­see-Oberschwa­ben, freute sich, dass so viele Vertre­ter aus Wirtschaft, Verwal­tung, Wissen­schaft und Politik der Einla­dung der beiden IHKs gefolgt waren. „Wir befin­den uns in einer außer­ge­wöhn­li­chen Zeit“, sagte er in seiner Begrü­ßungs­re­de. Buck verwies auf die Kriege, die derzeit in Europa und in unmit­tel­ba­rer Nähe statt­fin­den, auf die Strate­gien der Großmäch­te in Ost und West oder auch auf Taiwan, das sich zum Spiel­ball der Politik und Nadel­öhr der Liefer­ket­ten entwi­ckelt habe. „Alles Dinge, die wir aus unserem beschau­li­chen Oberschwa­ben heraus nicht beein­flus­sen können, mit deren Auswir­kun­gen wir aber umgehen müssen.“ 

Die geopo­li­ti­sche Situa­ti­on zwinge Unter­neh­men im export­star­ken Oberschwa­ben, ihre Liefer­ket­ten zu diver­si­fi­zie­ren. Deutlich höhere Energie­kos­ten erfor­der­ten Inves­ti­tio­nen in Energie­ef­fi­zi­enz­maß­nah­men – Kapital und Kapazi­tä­ten, die dann nicht mehr für Innova­ti­on zur Verfü­gung stünden. Zudem mache die Regelungs­wut auf verschie­de­nen Ebenen den Unter­neh­men durch ausufern­de Bürokra­tie und Berichts­pflich­ten zu schaf­fen, kriti­sier­te Buck. Er verwies auf Liefer­ket­ten­ge­setz, A1-Beschei­ni­gung bei Dienst­rei­sen ins europäi­sche Ausland, Compli­ance-Anfor­de­run­gen im Einkauf oder EU-Stoff­ver­bo­te und vieles mehr. Nicht zuletzt stell­ten die planlo­se Trans­for­ma­ti­on des Energie­sek­tors und Trans­port­we­sens sowie eine marode Infra­struk­tur der Straßen, Schie­nen- und Daten­we­ge in Deutsch­land Unter­neh­men vor zusätz­li­che Heraus­for­de­run­gen. Auch für die Politik seien die Zeiten sehr heraus­for­dernd, räumte der IHK-Präsi­dent ein. Viele komple­xe Entschei­dun­gen müssten schnell und unter Unsicher­hei­ten getrof­fen werden, dabei könnten Fehler passie­ren. Demokra­tie bedeu­te aber, um Kompro­mis­se zu ringen und Mehrhei­ten zu suchen. Die Wirtschaft habe aller­dings kein Verständ­nis dafür, wenn seitens der Politik nicht mehr zugehört werde. Zu leicht werde verkannt, dass jedes Unter­neh­men, jedes Produkt, jeder Arbeits­platz im weltwei­ten Wettbe­werb stünden. Nicht ohne Grund sei die Politik­be­ra­tung ein gesetz­li­cher Auftrag der IHKs, um auf Zusam­men­hän­ge und Missstän­de hinzu­wei­sen und Lösungs­vor­schlä­ge zu liefern. 

Mehr denn je sind Eigen­ver­ant­wor­tung und Risiko­be­reit­schaft gefragt, so Buck, und: „Wir müssen zusam­men­ste­hen, als Wirtschaft, als Politik und als Gesell­schaft. Wir müssen einan­der zuhören und vertrau­en. Wir brauchen ein gemein­sa­mes Zielbild und müssen bereit sein, uns auch von der einen oder anderen liebge­won­ne­nen Kleinig­keit zu verab­schie­den. Dann kommen wir in Aufbruch­stim­mung statt Abbruchstimmung.“

„Mehr Europa wagen“

Für ein starkes Europa warb Festred­ner Martin Schulz in seiner Rede. Der Vorsit­zen­de der Fried­rich-Ebert-Stiftung war Abgeord­ne­ter im Deutschen Bundes­tag, Bundes­vor­sit­zen­der der SPD, Kanzler­kan­di­dat und langjäh­ri­ges Mitglied im Europäi­schen Parla­ment, dem er als Präsi­dent in zwei Amtszei­ten von 2012 bis 2017 vorstand. Europa habe alle Chancen, auch im 21. Jahrhun­dert ein Ort von Wohlstand und Stabi­li­tät zu sein, sagte Schulz und erinner­te an die Anfän­ge der EU. „Wollen wir aber die Zustim­mung der Menschen zur EU nicht verlie­ren, muss sich einiges ändern.“ Dinge, die natio­nal nicht geregelt werden könnten, wie etwa die Bekämp­fung des Klima­wan­dels, handels­po­li­ti­sche Fragen sowie die Sicher­heits- und Vertei­di­gungs­po­li­tik sollten auf europäi­scher Ebene reguliert werden. Aber auch „die dunklen Seiten, wie beispiels­wei­se der Menschen­han­del“, müssen auf europäi­scher Ebene bekämpft werden. Überbor­den­de Bürokra­tie sei aller­dings falsch, so Schulz weiter. „Wir sollten wieder besser zuhören und wir brauchen effizi­en­te Lösun­gen.“ Was lokal, regio­nal oder natio­nal zu lösen sei, sollte auch lokal, regio­nal oder natio­nal gelöst werden, beton­te Schulz. Für alles andere erfor­de­re es die Kompe­tenz der EU. Es sei nicht ganz einfach, Kompro­mis­se zu erzie­len, da es Regie­run­gen gebe, die eine Zerstö­rung der EU riskierten. 

Dennoch gebe es ein gemein­sa­mes Ziel, das von Toleranz, Respekt, Wertschät­zung und Zusam­men­halt getra­gen werde. Europäi­sche Werte und Prinzi­pi­en müssten gegen Unter­drü­ckung und Macht­stre­ben vertei­digt werden. Das Modell Europa müsse wettbe­werbs­fä­hig bleiben gegen­über demokra­tie­feind­li­chen und unsozia­len Syste­men. „Europa ist nicht perfekt, aber ohne Europa ist alles nichts“, so Schulz. 

Es sei notwen­dig, jeman­dem wie Martin Schulz zuzuhö­ren, sagte Dr. Jan Stefan Roell, Präsi­dent der IHK Ulm, abschlie­ßend und bedank­te sich für dessen Vortrag. Zur EU gebe es keine Alter­na­ti­ve, aber „Europa macht nicht mehr so viel Spaß“. Die Unter­neh­men würden unter Regelun­gen leiden, die sie nicht verste­hen, sagte Roell und mahnte eine Refor­mie­rung der EU an. Es gelte, die Struk­tur der EU umzubau­en, in der Europa sich auf die Kernauf­ga­ben konzen­triert und Regelun­gen erarbei­tet, die dann auch umgesetzt werden müssen. „Die Freude an Europa darf uns nicht verlorengehen.“