STUTTGART (dpa/lsw) — Schulen stehen meist in den Schlag­zei­len wegen des Lehrer­man­gels und schlech­ter Unter­richts­qua­li­tät. Aber sie werden auch nicht selten Schau­platz von Gewalt. Neue Zahlen aus dem Minis­te­ri­um schockieren.

In einer Schule in Alten­steig (Kreis Calw) sprühen zwei Schüler mit Pfeffer­spray, in Stuten­see (Kreis Karls­ru­he) fällt Unter­richt aus, weil Schaum aus einem Feuer­lö­scher über den Flur verteilt wird, Schulen in Achern und Freiburg werden nach Drohun­gen geräumt. Vanda­lis­mus und Diebstahl, sexuel­le Übergrif­fe, Schlä­ge­rei­en und Drogen­miss­brauch und Diebstahl — die Liste der Straf­ta­ten an Schulen ist lang und sie wird mit dem Ende der Corona-Pande­mie wieder deutlich länger.

Die Krimi­na­li­tät von Kindern und Jugend­li­chen rund um die baden-württem­ber­gi­schen Schul­hö­fe und Klassen­zim­mer ist zuletzt sprung­haft gestie­gen. Die Fallzah­len am Tatort Schule schos­sen im vergan­ge­nen Jahr um 51,3 Prozent auf 4187, wie das Innen­mi­nis­te­ri­um auf eine Anfra­ge der AfD berichtet.

Der auffäl­li­ge Trend ist aus Sicht des Minis­te­ri­ums eine Folge der Corona-Pande­mie. Während des einge­schränk­ten Schul­be­triebs in den Pande­mie-Jahren 2020 und 2021 habe es deutlich weniger Straf­ta­ten gegeben, deshalb sei dieser Zeitraum schwer zu verglei­chen. Im Vergleich zum Vor-Pande­mie-Jahr 2019 sei die Zahl der Fälle um 9,2 Prozent zurückgegangen.

Dennoch sei das Niveau «besorg­nis­er­re­gend», sagte Gerhard Brand, der Bundes- und Landes­vor­sit­zen­de des Verbands Bildung und Erzie­hung (VBE), der dpa. «Die Gewalt an den Schulen ist kein spezi­el­les Phäno­men, sie ist ein Spiegel­bild der Gesell­schaft.» Deshalb müsse das oft als Tabu behan­del­te Thema auch aus den Schulen heraus­ge­holt und offen angespro­chen werden. «Wir müssen lernen zu akzep­tie­ren, dass es in unserer Gesell­schaft Gewalt gibt, um sie anzuge­hen», sagte Brand.

Helfen könnte unter anderem ein exter­ner Ombuds­mann als Ansprech­part­ner für betrof­fe­ne Lehrkräf­te. «Die Schule ist nicht der Repara­tur­be­trieb der Gesell­schaft, aber wir müssen uns schüt­zen», sagte Brand. «Wir brauchen eine Stelle, die Lehrer nach einem Vorfall aufsu­chen können und die solche Fälle ernst nimmt.»

Der VBE-Vorsit­zen­de warnte auch vor einer enormen Dunkel­zif­fer, die die Statis­tik nicht erfas­se: «Die Gewalt im Inter­net, das Mobbing und das Herab­wür­di­gen von Lehre­rin­nen und Lehrern, ist enorm, das können wir nicht erfassen.»

Zusätz­li­che Ansprech­part­ner für die Lehrkräf­te, das fordert auch die Gewerk­schaft Erzie­hung und Wissen­schaft (GEW). Aus den Schulen werde vor allem immer wieder von psychisch belas­ten­den Angrif­fen über sozia­le Medien berich­tet. «Die Landes­re­gie­rung sollte schnell mehr Stellen für Schul­so­zi­al­ar­beit und Schul­psy­cho­lo­gie schaf­fen und die Präven­ti­ons­pro­gram­me ausbau­en», sagte die GEW-Landes­vor­sit­zen­de Monika Stein der dpa. Vor der Enquete­kom­mis­si­on «Krisen­fes­te Gesell­schaft» sprach sie am Freitag im Stutt­gar­ter Landtag zudem von 100 weite­ren Stellen für Schulpsychologie.

Das Kultus­mi­nis­te­ri­um verweist auf «ein breites Netz von 28 Schul­psy­cho­lo­gi­schen Beratungs­stel­len», die über das ganze Land verteilt seien. Außer­dem würden etwa 1550 Beratungs­lehr­kräf­te an den allge­mein­bil­den­den und beruf­li­chen Schulen fortge­bil­det und könnten psycho­lo­gisch unter­stüt­zen. «Das Beratungs­leh­rer­sys­tem in Baden-Württem­berg ist im Vergleich mit anderen Ländern im Übrigen mit am weites­ten ausge­baut», sagte ein Sprecher des Minis­te­ri­ums. Man achte aber darauf, wo es eventu­ell noch nicht funktio­nie­re. «Denn es darf und kann nicht sein, dass den Schulen die Unter­stüt­zung fehlt», sagte der Sprecher.

In der Statis­tik des Minis­te­ri­ums erfasst wurden Fälle mit mindes­tens einem Tatver­däch­ti­gen unter 21 Jahren an priva­ten und öffent­li­chen Schulen in Baden-Württem­berg. Nach diesen Zahlen nahmen sogenann­te Rohheits­de­lik­te wie Körper­ver­let­zun­gen und Straf­ta­ten gegen die persön­li­che Freiheit um 86,6 Prozent auf 1851 Fälle zu — der höchs­te Wert zumin­dest im Zeitraum der vergan­ge­nen zwölf Jahre, über den das Minis­te­ri­um in der Antwort berich­tet. Auch im Vergleich zu 2019 stiegen die Rohheits­de­lik­te um 8,8 Prozent. Die Fallzah­len zu Sachbe­schä­di­gun­gen nahmen im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 42,8 Prozent zu auf 427 Fälle, im Vergleich zu 2019 um 16,3 Prozent.

Nach der Pande­mie sind auch Lehre­rin­nen und Lehrer wieder deutlich häufi­ger zu Opfern von Gewalt gewor­den. Die Polizei verzeich­ne­te im vergan­ge­nen Jahr 63 Straf­ta­ten mit Lehrkräf­ten als Opfer. Im Vorjahr waren es noch 30 Fälle, 2019 waren es ebenfalls 63. Bei 40 der 63 Delik­te handel­te es sich um Körperverletzungen.

Trotz des Anstiegs der Kinder- und Jugend­kri­mi­na­li­tät lehnt Innen­mi­nis­ter Thomas Strobl (CDU) in der Antwort auf die Anfra­ge den Einsatz von Sicher­heits­diens­ten an Schulen ab. «Im Sinne der Gestal­tung eines vertrau­ens­vol­len Mitein­an­ders und positi­ven Umfelds, in dem Schüle­rin­nen und Schüler sich entfal­ten und entwi­ckeln können, wird eine entspre­chen­de Maßnah­me als nicht zielfüh­rend angese­hen», schreibt der CDU-Politi­ker. Damit wären mögli­cher­wei­se auch Maßnah­men wie Taschen­kon­trol­len oder Durch­su­chun­gen von Schüle­rin­nen und Schülern verbun­den. Dies wären aller­dings «Grund­rechts­ein­grif­fe, für die es keine Ermäch­ti­gungs­grund­la­ge gibt», erklär­te Strobl.