Der Umgang mit Corona stellt auch die Demokra­tie in Deutsch­land auf die Probe. Das meint Franz Münte­fe­ring, der die Politik im Land über Jahrzehn­te mitge­prägt hat. Wie einig sollten sich die Partei­en dabei sein?

So wie Politik und Gesell­schaft in Deutsch­land auf die Gefahr durch das Virus reagie­ren, zeigt sich in seinen Augen, ob die politi­schen Spiel­re­geln funktio­nie­ren. Inmit­ten aller Sorgen um das Wohlerge­hen des Landes und der Menschen in der Krise macht der 80-Jähri­ge aber auch Hoffnung.

Die erste Beobach­tung des frühe­ren SPD-Frakti­ons­chefs, der die Politik über Jahrzehn­te mitpräg­te und auf eine mehr als 30-jähri­ge Erfah­rung als Abgeord­ne­ter zurück­blickt: «Die große Mehrheit der Bevöl­ke­rung vertraut darauf, dass die Politik sich nach besten Kräften bemüht, vernünf­ti­ge Lösun­gen zu finden.» Tatsäch­lich zeigen auch jüngs­te Umfra­gen eine mehrheit­li­che Unter­stüt­zung der Anti-Corona-Politik.

Der Födera­lis­mus kann nach Münte­fe­rings Ansicht helfen, entbin­de aber nicht von der Verant­wor­tung fürs Ganze. «Und politi­sche Verant­wor­tung nicht von der jedes Einzel­nen», sagt er. «Die Infizie­rungs­ge­fahr endet nicht, wenn die Politik das beschließt, sondern wenn alle beitra­gen, sich nicht zu infizie­ren und andere auch nicht.»

Die Mehrheit, im Grunde alle, müssten den Mut haben, zu sagen: «Wir müssen das durch­zie­hen, müssen die Pande­mie eindäm­men und Arbeit, Wirtschaft und Sozial­staat und Gesund­heit eines jeden Menschen zu schüt­zen versuchen.»

Unter­gräbt Partei­en­streit den breiten Konsens? Münte­fe­ring, dessen jüngs­te Gegen­warts­ana­ly­se im Septem­ber in Buchform erschie­nen war, meint: Nein. Es sei richtig, dass die demokra­ti­schen Partei­en bei Bedarf um den richti­gen Weg strei­ten. «Nicht immer ist von vornher­ein klar, was genau das Richti­ge ist.» Er meint: «Es ist gut, dass wir SPD haben und CDU/CSU, die Grünen und die Linken und die FDP — also ein anstren­gen­des Spektrum.» Denn: Inner­halb dieses Spektrums gebe es ein Grund­ver­trau­en in die demokra­ti­sche Verlässlichkeit.

Was er meint, beschreibt der gebür­ti­ge Sauer­län­der mit einer Anekdo­te. «Als 1982 Helmut Kohl Kanzler wurde, war ich stink­sauer. Ich wollte damals fast aus der Politik raus.» Er habe keinen Kanzler gewollt, der immer gegen die Ostver­trä­ge des frühe­ren SPD-Kanzlers Willy Brandt agitiert hatte, also gegen das Zugehen der Bundes­re­pu­blik auf die DDR. «Aber als Kanzler hat Kohl dann gesagt: Dies ist demokra­tisch entstan­den, im Land und überall sollen alle wissen, dass unsere Verein­ba­run­gen gelten.»

Auf heute sei dies übertrag­bar. Grund­ver­trau­en heißt für Münte­fe­ring: Niemand manipu­liert die Regeln, wenn er an der Macht ist. «Unter den demokra­ti­schen Partei­en ist klar: Sie werden die freien Wahlen nicht torpe­die­ren, die Gerich­te nicht torpe­die­ren, die freien Medien nicht strangulieren.»

Wenige Tage vor der US-Wahl mahnt Münte­fe­ring, der wie Ex-Kanzler Gerhard Schrö­der vor allem für die rot-grünen Regie­rungs­jah­re steht: Demokra­ti­sche Partei­en täten nicht das, was autokra­ti­sche Macht­ha­ber tun. «Ungarn, Polen, die Türkei, Russland fallen ein. Auch der derzei­ti­ge US-Präsi­dent.» Statt­des­sen würden sich diese Partei­en wieder dem Urteil der Wähle­rin­nen und Wähler stellen.