KIEW (dpa) — Wie soll die Friedens­ord­nung für die Ukrai­ne ausse­hen, wenn Russlands Angriffs­krieg einmal vorbei ist? Kanzler Scholz fordert einen Abzug russi­scher Truppen. Die aktuel­len Entwick­lun­gen im Überblick.

Die Ukrai­ne versucht das Leben in den zurück­er­ober­ten Gebie­ten im Osten so schnell wie möglich wieder zu normalisieren.

«Es ist sehr wichtig, dass mit unseren Truppen, mit unserer Flagge auch das norma­le Leben in die nicht mehr besetz­ten Gebie­te zurück­kehrt», sagte Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj am Diens­tag­abend. Doch zugleich scheint sich die Erfah­rung nach dem Abzug russi­scher Truppen aus der Umgebung von Kiew im Frühjahr zu wieder­ho­len: Aus den befrei­ten Gebie­ten melden ukrai­ni­sche Behör­den Hinwei­se auf mutmaß­li­che Kriegs­ver­bre­chen der Besat­zer. Im Gebiet Charkiw gebe es bereits 40 Verdachts­fäl­le, sagte Vize-Innen­mi­nis­ter Jewhe­nij Jenin.

Nach den schnel­len Vorstö­ßen ukrai­ni­scher Truppen in den vergan­ge­nen Tagen gab es in der Nacht zu Mittwoch keine Nachrich­ten über neue Gelän­de­ge­win­ne. Doch die US-Regie­rung sieht angesichts militä­ri­scher Erfol­ge der Ukrai­ne eine neue Dynamik im Krieg mit Russland, der in seinen 203. Tag geht. Bundes­kanz­ler Olaf Scholz (SPD) telefo­nier­te nach monate­lan­ger Pause erstmals wieder mit Russlands Präsi­dent Wladi­mir Putin — und forder­te dabei eine Lösung, die auf einem Waffen­still­stand, dem vollstän­di­gen Rückzug der russi­schen Truppen und auf der Achtung der terri­to­ria­len Integri­tät der Ukrai­ne basiert.

Ukrai­ne zahlt im Osten wieder Renten

Als Beispiel für die angestreb­te Norma­li­sie­rung des Lebens in zurück­er­ober­ten Gebie­ten nannte Selen­skyj in seiner Video­an­spra­che, dass in der befrei­ten Stadt Balak­li­ja im Gebiet Charkiw erstmals wieder Renten ausge­zahlt worden seien — und zwar rückwir­kend für fünf Monate. «In der Zeit der Beset­zung konnten wir keine Zahlun­gen leisten.» Die Ukrai­ne werde ihre sozia­len Verpflich­tun­gen erfül­len, versprach der Präsident.

Zu den anderen Aufga­ben in dem Gebiet zählte Selen­skyj die Suche nach verspreng­ten russi­schen Solda­ten und Sabota­ge­grup­pen sowie die Festnah­me von Kolla­bo­ra­teu­ren. Die Sicher­heit in den befrei­ten Landes­tei­len müsse garan­tiert werden.

Hinwei­se auf Kriegs­ver­bre­chen der russi­schen Besat­zer gemeldet

Ebenfalls aus Balak­li­ja kam die Nachricht, dass russi­sche Kräfte im örtli­chen Polizei­re­vier ein Folter­ge­fäng­nis unter­hal­ten haben sollen. Im Keller seien während der mehre­re Monate dauern­den Besat­zung durch­ge­hend um die 40 Menschen einge­sperrt gewesen, berich­te­te der rangho­he ukrai­ni­sche Polizist Serhij Bolwi­now nach einem Ortstermin.

«Die Besat­zer nahmen dieje­ni­gen mit, die beim Militär dienten oder dort Verwand­te hatten, und suchten auch nach denen, die der Armee halfen», schrieb der Leiter der Ermitt­lungs­ab­tei­lung bei der Polizei Charkiw auf Facebook. Laut Zeugen­aus­sa­gen seien Gefan­ge­ne mit Strom­schlä­gen gefol­tert worden. Repor­ter der BBC und anderer auslän­di­scher Medien bestä­tig­ten die Angaben. Sie berich­te­ten auch von Leichen, die in Balak­li­ja gefun­den worden seien. Auch aus anderen Orten der Region gab es unveri­fi­zier­te Berich­te über Leichenfunde.

Nach dem Abzug russi­scher Truppen aus Butscha und anderen Voror­ten von Kiew Ende März waren dort Hunder­te tote Zivilis­ten entdeckt worden. Moskau stritt trotz erdrü­cken­der Bewei­se ab, dass die Tötun­gen auf das Konto russi­scher Solda­ten gingen, und sprach von einer ukrai­ni­schen Insze­nie­rung. Die Ukrai­ne sammelt mit inter­na­tio­na­ler Hilfe Bewei­se für mutmaß­li­che Kriegs­ver­bre­chen der russi­schen Armee.

Vize-Innen­mi­nis­ter Jenin sprach von bislang 40 Verdachts­fäl­len in der Region Charkiw. «Die Besat­zer waren lange Zeit in diesem Gebiet und haben natür­lich alles gemacht, um die Spuren ihrer Verbre­chen zu verde­cken», sagte er nach Minis­te­ri­ums­an­ga­ben. Es müsse alles getan werden, um Bewei­se zu sichern.

USA sehen ukrai­ni­sches Militär derzeit im Vorteil

Die Lage an der Front sei gespannt, aber unter Kontrol­le, sagte der ukrai­ni­sche Oberbe­fehls­ha­ber Walerij Saluschnyj. Er telefo­nier­te nach eigenen Angaben mit Nato-Oberbe­fehls­ha­ber Chris­to­pher Cavoli und US-General­stabs­chef Mark Milley. Dabei dankte Saluschnyj für die militä­ri­sche Unter­stüt­zung der USA.

Angesichts des ukrai­ni­schen Vormar­sches hätten russi­sche Vertre­ter dieser Tage sondiert, ob Verhand­lun­gen möglich seien, sagte die ukrai­ni­sche Vize-Regie­rungs­chefin Olha Stefa­ni­schy­na dem Sender France24. Die Ukrai­ne wolle aber erst verhan­deln, wenn sie ihre militä­ri­schen Ziele erreicht habe. Eine Bestä­ti­gung aus Moskau für das angeb­li­che Gesprächs­an­ge­bot gab es nicht.

Wegen der Erfol­ge der Ukrai­ner sieht die US-Regie­rung eine neue Dynamik in dem Krieg. «Ich denke, was Sie sehen, ist sicher­lich eine Verschie­bung, ein Momen­tum der ukrai­ni­schen Streit­kräf­te, insbe­son­de­re im Norden», sagte der Kommu­ni­ka­ti­ons­di­rek­tor des Natio­na­len Sicher­heits­ra­tes, John Kirby, in Washing­ton. Die Russen hätten ihre Stellun­gen aufge­ge­ben und Materi­al zurück­ge­las­sen. «Sie nennen es eine Neupo­si­tio­nie­rung, aber es ist sicher, dass sie sich angesichts der ukrai­ni­schen Streit­kräf­te, die eindeu­tig in der Offen­si­ve sind, zurück­ge­zo­gen haben.» Kirby beton­te, dass Russland aber weiter­hin militä­risch stark sei.

Kein Einlen­ken Putins im Gespräch mit Scholz

Kanzler Scholz sprach etwa 90 Minuten lang mit Kreml­chef Putin und warnte vor weite­ren Versu­chen, Gebie­te der Ukrai­ne abzutren­nen. «Der Bundes­kanz­ler beton­te, dass etwaige weite­re russi­sche Annexi­ons­schrit­te nicht unbeant­wor­tet blieben und keines­falls anerkannt würden», sagte Regie­rungs­spre­cher Steffen Hebestreit.

Die Mittei­lung des Kremls zu dem Telefo­nat ließ auf keiner­lei Einlen­ken Putins schlie­ßen. Der Präsi­dent habe den Kanzler auf die «himmel­schrei­en­den Verstö­ße» der Ukrai­ner gegen das humani­tä­re Völker­recht aufmerk­sam gemacht, hieß es. Die ukrai­ni­sche Armee beschie­ße Städte im Donbass und töte dort Zivilisten.

Im Streit über Gaslie­fe­run­gen beton­te Putin demnach, dass Russland ein zuver­läs­si­ger Liefe­rant sei. Westli­che Sanktio­nen verhin­der­ten aber eine ordnungs­ge­mä­ße Wartung der Ostsee-Pipeline Nord Stream 1. Nicht nur die Bundes­re­gie­rung hält diese Begrün­dung für den Liefer­stopp für vorgeschoben.

Ukrai­ne legt Konzept zu Sicher­heits­ga­ran­tien vor

Die Ukrai­ne hat ein Konzept für inter­na­tio­na­le Sicher­heits­ga­ran­tien nach dem erhoff­ten Ende des russi­schen Angriffs­kriegs ausge­ar­bei­tet. Der Leiter des ukrai­ni­schen Präsi­di­al­am­tes, Andrij Jermak, und der frühe­re Nato-General­se­kre­tär Anders Fogh Rasmus­sen stell­ten das Papier in Kiew vor. Demnach sollte die ukrai­ni­sche Armee so ausge­rüs­tet und ausge­bil­det werden, dass das Land jeder­zeit einen russi­schen Angriff abweh­ren kann.

Eine Gruppe von Ländern sollte politisch und recht­lich die Sicher­heit der Ukrai­ne garan­tie­ren. Als mögli­che Garan­tie­staa­ten wurden aufge­lis­tet: Deutsch­land, die USA, Großbri­tan­ni­en, Kanada, Polen, Itali­en, Frank­reich, Austra­li­en, die Türkei sowie die Länder Nordeu­ro­pas und des Balti­kums. Auch mit den Garan­tien strebe die Ukrai­ne weiter einen Beitritt zur Nato an, hieß es.

Das wird am Mittwoch wichtig

Die russi­sche Führung muss derzeit nicht nur überle­gen, wie sie die Schlap­pe in der Ostukrai­ne auffängt. Sie muss sich auch um den wieder­auf­ge­flamm­ten Konflikt zwischen Aserbai­dschan und Armeni­en kümmern. Ein schnel­les Ende dieser Kämpfe zu errei­chen, ist einer der wenigen Punkte, in dem Russland und andere Staaten sich derzeit einig sein. Die diplo­ma­ti­schen Bemühun­gen um eine Waffen­ru­he werden am Mittwoch weitergehen.