MOSKAU/KIEW/BRÜSSEL (dpa) — Russland droht, annek­tier­te ukrai­ni­sche Terri­to­ri­en «mit allen Mitteln» zu vertei­di­gen. Biden warnt vor der Gefahr eines «Armag­ged­dons» und Selen­skyj spricht gar von Präven­tiv­schlä­gen. Wie groß ist die Gefahr?

Angesichts der zuneh­mend unkla­ren Lage auf den Schlacht­fel­dern in der Ukrai­ne werden die Töne in mehre­ren Haupt­städ­ten schril­ler. Die Möglich­keit eines Atomschlags wird wieder ernst­haft disku­tiert. Der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj forder­te, einen russi­schen Atomwaf­fen­ein­satz unmög­lich zu machen. Die von ihm dabei erwähn­ten «Präven­tiv­schlä­ge» relati­vier­te Kiew zwar kurz darauf wieder. Moskau reagier­te dennoch heftig und sprach von einem Aufruf, den Dritten Weltkrieg zu starten. Doch wie kurz stehen wir wirklich davor? Einige wichti­ge Fragen und Antworten:

Wieso ist die Sorge vor einer nuklea­ren Eskala­ti­on gestiegen?

Hinter­grund ist Russlands Angriffs­krieg in der Ukrai­ne, in dem Moskau trotz der jüngs­ten Annexi­on von Gebie­ten zuneh­mend die Kontrol­le verliert. Auf der einen Seite hat Russlands Führung zuletzt mehrfach erklärt, die Erobe­run­gen mit «allen zur Verfü­gung stehen­den Mitteln» zu vertei­di­gen, was auch den Einsatz von Atomwaf­fen impli­ziert. Auf der anderen Seite stehen die Äußerun­gen des ukrai­ni­schen Staats­chefs Selen­skyj und von US-Präsi­dent Joe Biden. Der eine hat Präven­tiv­maß­nah­men gegen einen russi­schen Atomwaf­fen­ein­satz gefor­dert. Der andere sagte, die Welt stehe so dicht vor einem Atomwaf­fen­krieg wie seit der Kuba-Krise 1962 nicht mehr.

Was sind die nuklea­ren Optio­nen Russlands im Ukraine-Krieg?

Russland hat sowohl strate­gi­sche als auch takti­sche Atomwaf­fen. Strate­gi­sche Atomwaf­fen könnten wohl nur zum Einsatz kommen, wenn sich der Krieg in der Ukrai­ne zu einer vollwer­ti­gen kriege­ri­schen Ausein­an­der­set­zung Russlands mit der Nato auswei­ten würde. Takti­sche Atomwaf­fen hinge­gen haben kleine­re Spreng­köp­fe und könnten daher von Russland theore­tisch für einen begrenz­ten Einsatz in der Ukrai­ne einge­setzt werden. Aber auch hier wäre das Eskala­ti­ons­ri­si­ko wegen der Verstrah­lung großer Gebie­te gewaltig.

Was besagt Russlands Atomdoktrin?

Die Atomdok­trin besagt, dass Moskau Atomwaf­fen nur als Antwort in zwei Fällen verwen­det werden darf: entwe­der bei einem atoma­ren Angriff auf Russland oder bei einem Angriff auf Russland mit konven­tio­nel­len Waffen, der die Existenz des Landes selbst gefähr­det. Der zweite Punkt ist ausle­gungs­fä­hig: Ist die ukrai­ni­sche Rückerobe­rung der von Russland annek­tier­ten Gebie­te aus Moskau­er Sicht schon eine Gefähr­dung der Existenz des Landes? Kreml­spre­cher Dmitri Peskow hat zuletzt angedeu­tet, dass dies nicht der Fall sei.

Für wie wahrschein­lich halten Exper­ten einen solchen Schlag?

Die meisten Exper­ten halten einen Atomschlag für unwahr­schein­lich. Technisch sind die russi­schen Atomstreit­kräf­te zumin­dest auf dem Papier zwar dafür ausge­rüs­tet — es gibt geschätzt rund 6000 takti­sche Atomspreng­köp­fe und mehr als 1000 strate­gi­sche. Doch die Folgen einer solchen Aktion wären auch für Russland selbst ungewiss. Ein takti­scher Atomschlag gegen die Ukrai­ne birgt ein unkal­ku­lier­ba­res Eskalationsrisiko.

Zugleich ist unklar, welche militä­ri­schen Ziele damit überhaupt erreicht werden können. Ukrai­ni­sche Militär­ein­hei­ten sind nahe der Front, Moskau würde also auch die eigenen Truppen gefähr­den. Der Einsatz würde zudem das Terri­to­ri­um verseu­chen, das Russland beansprucht.

Der Einsatz strate­gi­scher Atomwaf­fen wieder­um würde wohl das Ende Russlands bedeu­ten. Zwar haben Moskau­er TV-Propa­gan­dis­ten zu Kriegs­be­ginn getönt: «Was brauchen wir die Welt, wenn in dieser Welt kein Platz für Russland ist», um anzudeu­ten, dass Moskau keine Nieder­la­ge in der Ukrai­ne akzep­tie­ren werde. Viele Beobach­ter halten Kreml­chef Wladi­mir Putin aber für klug genug, nicht den Selbst­zer­stö­rungs­knopf zu drücken. Und selbst in dem Fall müssten alle unter­stell­ten Offizie­re in der Komman­do­ket­te mitspie­len, was nach den jüngs­ten Quere­len inner­halb der russi­schen Sicher­heits­or­ga­ne ebenfalls alles andere als sicher sein dürfte.

Wie sieht das die Ukraine?

In der Ukrai­ne wird die Gefahr russi­scher Atomschlä­ge unter­schied­lich bewer­tet: Präsi­dent Selen­skyj sagte, Moskaus Atomdro­hun­gen seien ernst zu nehmen. Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Olexij Resni­kow hinge­gen meinte kürzlich in einem Inter­view: «Wo werden sie diese einset­zen? An der Front­li­nie, wo nicht nur ukrai­ni­sche, sondern auch ihre eigenen Einhei­ten sind? Im Schwar­zen Meer? Dort sind drei Nato-Staaten.» Bei Treffen mit westli­chen Partnern beton­te Resni­kow: «Hört auf, Russland zu fürch­ten. Das ist nicht die zweit­bes­te Armee der Welt, das sind Bettler, Plünde­rer und Vergewaltiger.»

Wie würde der Westen reagieren?

Um das Risiko eines Atomwaf­fen­ein­sat­zes für Putin unkal­ku­lier­bar zu machen, äußern sich die Verant­wort­li­chen in Nato- und EU-Ländern öffent­lich nicht detail­liert zu solchen Fragen. Klar ist, dass die Reakti­on am Ende davon abhängt, was Russland genau tut. Sollte Putin «ledig­lich» einen Atomwaf­fen­test durch­füh­ren lassen, um die Ukrai­ne zur Aufga­be ihres Abwehr­kamp­fes zu bewegen, würde sich die Reakti­on des Westens vermut­lich auf nicht-militä­ri­sche Maßnah­men wie eine diplo­ma­ti­sche Verur­tei­lung und zusätz­li­che Sanktio­nen beschränken.

Für den Fall eines russi­schen Atomwaf­fen­an­griffs auf Großstäd­te wie Kiew gilt hinge­gen nicht einmal ein direk­tes Eingrei­fen der Nato als ausge­schlos­sen. Sollten alle Bündnis­part­ner zustim­men, könnte die Nato dann etwa versu­chen, die russi­schen Invasi­ons­trup­pen in der Ukrai­ne militä­risch auszu­schal­ten. Ein weite­re Option sind nach Angaben aus Bündnis­krei­sen massi­ve Cyber­an­grif­fe — zum Beispiel, um kriti­sche Infra­struk­tur wie die Strom­ver­sor­gung oder die Kommu­ni­ka­ti­on lahmzu­le­gen. Ein solches Vorge­hen gilt auch dann als denkbar, wenn Russland kleine­re takti­sche Nukle­ar­waf­fen gezielt gegen die ukrai­ni­schen Streit­kräf­te einset­zen sollte.

«Was soll die Nato tun? Den Einsatz von Atomwaf­fen durch Russland unmög­lich machen» — mit Sätzen wie diesem hat der ukrai­ni­sche Präsi­dent Selen­skyj am Donners­tag den Anschein erweckt, er forde­re von der Nato Präven­tiv­schlä­ge gegen Russland.

Später entschärf­te er seine umstrit­te­nen Aussa­gen zu einem «Präven­tiv­schlag» gegen Russland in einem Fernseh­in­ter­view. «Man muss präven­ti­ve Tritte ausfüh­ren, keine Angrif­fe. Wir sind keine Terro­ris­ten, wir greifen kein anderes Terri­to­ri­um an», sagte Selen­skyj am Freitag in Kiew in einem BBC-Inter­view auf Englisch. Auch nach all dem Kriegs­leid sei die Ukrai­ne noch immer nicht bereit, «Menschen umzubrin­gen, so wie die Russen es tun».

Doch ist ein solches Vorge­hen denkbar?

Nein. Die Nato versteht sich als reines Vertei­di­gungs­bünd­nis, das auf keinen Fall zur Kriegs­par­tei werden will — auch aus Sorge vor einem Dritten Weltkrieg. Im aktuel­len Strate­gi­schen Konzept heißt es so ganz deutlich: «Die Nato sucht keine Konfron­ta­ti­on und stellt für die Russi­sche Födera­ti­on keine Bedro­hung dar.» Aus diesen Grund liefern Nato-Staaten bislang auch keine westli­chen Kampf­pan­zer an die ukrai­ni­schen Streit­kräf­te. Nato-General­se­kre­tär Jens Stolten­berg bezeich­ne­te das «atoma­re Säbel­ras­seln» Russlands zuletzt mehrfach als unver­ant­wort­lich und gefährlich.

Für wie realis­tisch hält die Nato einen Atomwaffeneinsatz?

In der Nato wird die Ansicht vertre­ten, dass der Einsatz von Atomwaf­fen für Russland militä­risch keinen Sinn ergeben würde — vor allem wegen der unkal­ku­lier­ba­ren Folgen. So wird auch darauf verwie­sen, dass die Russen im Fall eines offen­si­ven Atomwaf­fen­ein­sat­zes fürch­ten müssten, dass sich auch Länder wie China und Indien klar gegen sie stellen.

Wann standen sich USA und Russland letzt­mals atomar gegenüber?

Vor 60 Jahren — im Oktober 1962 — drohte nach der Statio­nie­rung sowje­ti­scher Mittel­stre­cken­ra­ke­ten auf Kuba eine atoma­re Eskala­ti­on im Kalten Krieg der damali­gen Super­mäch­te. Wenige hundert Kilome­ter vor ihrer Südküs­te sahen sich die USA einer unmit­tel­ba­ren Bedro­hung ausge­setzt und reagier­ten mit einer Seeblo­cka­de rund um Kuba — verbun­den mit der Forde­rung an die Sowjet­uni­on, die Raketen wieder abzuzie­hen. Unter der Führung Nikita Chruscht­schows willig­te Moskau schließ­lich ein. Bedin­gung war, dass die USA die sozia­lis­ti­sche kubani­sche Regie­rung nicht gewalt­sam stürzten.

Von André Ballin, Andre­as Stein, Ansgar Haase und Katja Räther, dpa