BERLIN (dpa) — Grünes Licht für große Reform: Viele Firmen suchen hände­rin­gend Arbeits­kräf­te. Trotz­dem stecken viele Menschen in Hartz IV fest. Nun soll sich der Staat besser um die Arbeits­lo­sen kümmern.

Mit dem Start des Bürger­gelds erhal­ten Millio­nen Bedürf­ti­ge zum 1. Januar deutlich höhere Bezüge. Nach wochen­lan­gem Ringen nahm das zentra­le sozial­po­li­ti­sche Projekt der Ampel-Koali­ti­on am Freitag die letzten Hürden. Bundes­tag und Bundes­rat versam­mel­ten sich mit breiten Mehrhei­ten hinter dem Regel­werk, das auf Druck der Union verschärft worden war. In der Länder­kam­mer sagte Arbeits­mi­nis­ter Huber­tus Heil (SPD): «Wir schaf­fen ein neues System weg von Hartz IV zum Bürger­geld.» Linke und AfD kriti­sier­ten die Reform. Arbeit­ge­ber, Gewerk­schaf­ten und Sozial­ver­bän­de reagie­ren verhal­ten positiv.

«Es geht um Schutz und Chancen», sagte Heil. «Mit dem Bürger­geld besteht die Chance, dass wir den Grund­satz von Schutz und Chancen in diesen Zeiten erneu­ern.» Statt Massen­ar­beits­lo­sig­keit wie zu Beginn von Hartz IV gebe es heute Vollbe­schäf­ti­gung und Fachkräf­te­man­gel. Angesichts der hohen Infla­ti­on steigen die Bezüge in der Grund­si­che­rung um mehr als 50 Euro. Allein­ste­hen­de erhal­ten 2023 monat­lich 502 Euro.

Arbeits­lo­se erhal­ten mehr Hilfe

Große Teile der Reform treten erst zum 1. Juli in Kraft. Die Jobcen­ter sollen sich dann stärker um Arbeits­lo­se kümmern. Die Vermitt­lung in dauer­haf­te Arbeit anstatt in Helfer­jobs soll besser gelin­gen. Die Betrof­fe­nen sollen verstärkt weiter­qua­li­fi­ziert werden. Die Empfän­ge­rin­nen und Empfän­ger der Grund­si­che­rung dürfen künftig auch mehr hinzu­ver­die­nen, etwa mit Minijobs.

Den Beschlüs­sen war ein Vermitt­lungs­ver­fah­ren von Bundes­tag und Bundes­rat voraus­ge­gan­gen. Die Union hatte die ursprüng­li­chen Pläne von SPD, Grünen und FDP abgelehnt. Ihr Haupt­kri­tik­punkt war, Arbeits­lo­se würden zu wenig zu eigener Mitwir­kung angehal­ten. Die Balan­ce von Fördern und Fordern sah die Union nicht mehr gewahrt. Im Bundes­rat fiel das Bürger­geld deshalb zunächst durch.

Seiten­hieb auf die Union

In einem Seiten­hieb auf die Union wandte sich Heil nun gegen den «General­ver­dacht», dass Langzeit­ar­beits­lo­se zu faul zum Arbei­ten seien. In der abschlie­ßen­den Debat­te im Bundes­tag hatte FDP-Vize Johan­nes Vogel zuvor betont: «Fördern und Fordern gilt auch beim Bürger­geld.» Grünen-Frakti­ons­chefin Britta Haßel­mann sagte: «Die Metho­de Populis­mus hatte im Vermitt­lungs­aus­schuss überhaupt keinen Raum.» Sie habe sich gefragt, ob es daran liege, dass CDU-Chef Fried­rich Merz und CSU-Chef Markus Söder nicht dabei gewesen seien.

Der AfD-Abgeord­ne­te Götz Frömming bewer­te­te das Bürger­geld als «Etiket­ten­schwin­del». Gesine Lötzsch von der Linken sagte: «Das Bürger­geld ist eben keine Überwin­dung von Hartz IV, es ist nur ein Täuschungs­ma­nö­ver.» Im Bundes­rat begrün­de­te Thürin­gens Minis­ter für Bundes­an­ge­le­gen­hei­ten, Benja­min-Immanu­el Hoff (Linke), die Zustim­mung seines Landes damit, dass es sich unter anderem bei den höheren Regel­sät­zen um nötige Sofort­maß­nah­men handele.

CDU spricht von einem guten Kompromiss

Hessens Minis­ter­prä­si­dent Boris Rhein (CDU) versi­cher­te, das Vorge­hen der Union habe nichts mit Blocka­de zu tun gehabt. Ein guter Kompro­miss sei gelun­gen. Sachsen-Anhalts Minis­ter­prä­si­dent Reiner Hasel­off (CDU) beton­te, «dass wir neue Ansät­ze benöti­gen». Heute gebe es mehr Unqua­li­fi­zier­te und Menschen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund, die eine Perspek­ti­ve bräuch­ten. Seine rhein­land-pfälzi­sche Amtskol­le­gin Malu Dreyer (SPD) sagte: «Ein Drittel der arbeits­lo­sen Menschen haben keine abgeschlos­se­ne Ausbil­dung.» Mecklen­burg-Vorpom­merns Minis­ter­prä­si­den­tin Manue­la Schwe­sig (SPD) sagte mit Blick auf die Union, die Debat­te sei «vergif­tet» geführt worden. Sugge­riert worden sei, dass Arbeit sich nicht mehr lohne.

Verschärft wurden auf Druck von CDU und CSU entge­gen Heils ursprüng­li­chem Entwurf die mögli­chen Sanktio­nen. Bereits ab Januar sind Kürzun­gen des Bürger­gelds gestaf­felt und in Höhe von maximal 30 Prozent möglich, wenn sich Arbeits­lo­se entge­gen den Abspra­chen nicht auf eine Stelle bewer­ben oder eine Maßnah­me zur Quali­fi­zie­rung verwei­gern. Die Betrof­fe­nen dürfen zudem künftig weniger selbst angespar­tes Geld behal­ten als zunächst geplant. Dieses sogenann­te Schon­ver­mö­gen beträgt in einer «Karenz­zeit» von einem Jahr künftig 40.000 Euro.

Sehr große Mehrheit für ausge­han­del­ten Kompromiss

Im Bundes­tag stimm­ten 557 Abgeord­ne­te für die Änderun­gen durch den Vermitt­lungs­aus­schuss. Den Kompro­miss ausge­han­delt hatte eine infor­mel­le Runde von Ampel-Koali­ti­on und Union. Die AfD kriti­sier­te das Vorge­hen deshalb als nicht verfas­sungs­ge­mäß. Abschlie­ßend bekam das Bürger­geld eine «sehr große Mehrheit» im Bundes­rat, wie der Bundes­rats­prä­si­dent, Hamburgs Erster Bürger­meis­ter Peter Tschent­scher (SPD), feststell­te. Bayern hatte sich enthalten.

Arbeit­ge­ber­prä­si­dent Rainer Dulger sprach von einem «nachge­bes­ser­ten Hartz-IV-Gesetz». Die Integra­ti­on in die Betrie­be könne gelin­gen — «mit Fördern und Fordern, Quali­fi­zie­rung, Coaching und geziel­ter Unter­stüt­zung». Die Jobcen­ter müssten dafür aber angemes­sen ausge­stat­tet werden. DGB-Vorstands­mit­glied Anja Piel sagte, die Ampel habe viele wesent­li­che Verbes­se­run­gen des Bürger­gelds in den Verhand­lun­gen mit der Union gerettet.

Vanes­sa Ahuja vom Vorstand der Bundes­agen­tur für Arbeit bewer­te­te das als «wichti­ge Reform». Sie sagte: «Bei den Förder­mög­lich­kei­ten wird unser Instru­men­ten­kas­ten größer.» Die Vorsit­zen­de des Sozial­ver­ban­des Deutsch­land, Michae­la Engel­mei­er, sagte: «Nun ist es wichtig, dass spalte­ri­sche Rheto­rik, die unter­schied­li­che Gruppen gegen­ein­an­der aufhetzt, endlich beendet wird.»

Von Basil Wegener, dpa