Stell dir vor, es ist Karne­val, aber keiner geht hin: In den närri­schen Hochbur­gen zeigt der Kalen­der den Beginn der fünften Jahres­zeit an. Viel zu merken, ist davon aller­dings nicht — und das ist gewollt. Eindrü­cke aus der Anti-Schunkel-Zone.

Wäre es ein norma­les Jahr, würde Braun überhaupt nicht auffal­len mit seiner rot-grünen Mütze: Eine bunte Masse aus trinken­den, johlen­den Karne­vals­tou­ris­ten, die der neben­an gelege­ne Kölner Haupt­bahn­hof an einem gewöhn­li­chen 11.11. — dem Karne­vals­auf­takt — ausspeit, würde ihn einfach schlu­cken. Heute aber fällt der Jurist mit der Kappe auf. Man kann sagen, er trägt sie mit einem gewis­sen Stolz, wenn nicht gar Trotz. «Wir Kölne­rin­nen und Kölner haben so ein paar Grund­tu­gen­den vom lieben Gott mitbe­kom­men», sagt Braun. «Wie beispiels­wei­se Leidens­fä­hig­keit und einen unerschüt­ter­li­chen Optimismus.»

Braun ist die designier­te «Jungfrau Gerde­mie», eine der drei Figuren im Kölner Dreige­stirn, einem Trio von Oberje­cken, das an Karne­val durch die Säle zieht. In diesem Jahr fällt das in großen Teilen flach. Grund: Corona. Nicht nur in den Sälen wird der Karne­val vom Virus abgewürgt, sondern auch auf den Straßen wie an diesem Mittwoch. Zum Schluss einer kleinen Andacht für das Dreige­stirn im Dom spielt die Orgel immer­hin ein Lied der Karne­vals­band Bläck Fööss. Köln orgelt gegen die Pande­mie an — viel mehr ist nicht drin an diesem 11.11.

Ähnlich sieht es in anderen Karne­vals­hoch­bur­gen aus. Wer es nicht besser weiß, könnte den diesjäh­ri­gen 11.11. für einen gewöhn­li­chen Tag im tristen Novem­ber halten. Die dominie­ren­den Farben: Grau und Braun. Auffäl­lig sind einzig die vielen grell­gel­ben Westen von Sicher­heits­leu­ten. Ein Polizei­au­to zuckelt durch die Altstadt, die bei der Sessi­ons­er­öff­nung norma­ler­wei­se in jeder Hinsicht überläuft.

Gerade Köln hatte vor dem 11.11. viel Energie darauf verwen­det, Menschen vom Feiern abzuhal­ten. Es gilt ein Alkohol­ver­bot auf den Straßen. Von Plaka­ten verkün­det die Schau­spie­le­rin Janine Kunze (46) mit ernstem Blick: «Am 11.11. feiere ich nicht.» Kunze spiel­te früher mal die arg doofe Tochter Carmen in der Klamauk-Serie «Hausmeis­ter Krause». Die Botschaft: Selbst die hat es verstanden.

Die Frage aber blieb: Kann eine Millio­nen­stadt, die für einen gewis­ses Laisser-faire berüch­tigt ist, auch ernst und ungesel­lig? Ohne Verbrü­de­rungs­ges­ten unter Fremden, die ganz und gar gegen jede Pande­mie-Strate­gie wären? Modera­tor Klaas Heufer-Umlauf (37) sagte neulich über seine Köln-Erfah­rung: «Das ist wie so eine Urlaubs­be­kannt­schaft, die sich dir an den Hals wirft.» Sofort kenne man immer alle.

Die erste Antwort: Ja, es geht. Es ist ziemlich leer. «Ich habe mich gewun­dert, warum hier Ordner stehen, und dann habe ich erst reali­siert, dass heute der 11.11 ist», sagt Jenny Stander. Die 28-Jähri­ge wohnt nahe der Zülpi­cher Straße, einer bekann­ten Partymeile.

Andere pressen zumin­dest ein bisschen Karne­val aus dem dunklen Tag. «Man kann sich trotz Corona doch immer noch verklei­den und ein bisschen Karne­vals­stim­mung verbrei­ten», sagt Tobias Behn, der auf dem Weg zur Arbeit in ein Labor ist — kostü­miert als Löwe. Sein Bekennt­nis: «Auf den Kopfhö­rern habe ich Karne­vals­mu­sik laufen.» Vor dem Dom trägt Ingo Schön­hold eine Pappna­se über der Mund-Nasen-Maske. Er sieht es so: «Selbst wenn zum Beispiel ein Sommer wegen des Wetters nicht statt­fin­det, dann gibt es die Jahres­zeit trotzdem.»

Als er weiter zieht, um zur Arbeit zu gehen, fällt ihm die Pappna­se auf die vom Regen nasse Domplat­te. Er hebt sie wieder auf.