Der Bund hat seine Vorschlä­ge für eine gesetz­li­che Corona-Notbrem­se auf den Tisch gelegt. Jetzt sind Länder und Bundes­tag am Zug. Es deutet sich ein Macht­ge­ran­gel an — und die Zeit drängt.

BERLIN (dpa) — Im Tauzie­hen um bundes­weit einheit­li­che Regelun­gen gegen die dritte Corona-Welle gibt es deutli­che Kritik an den Vorschlä­gen der Bundesregierung.

Während Landes­po­li­ti­ker vor einer Entmach­tung der Länder warnen, halten Opposi­ti­ons­frak­tio­nen beson­ders die geplan­ten Ausgangs­be­schrän­kun­gen für proble­ma­tisch. Auch die Regie­rungs­frak­ti­on SPD äußer­te Nachbes­se­rungs­wün­sche. Eine Einigung auf einen gemein­sa­men Entwurf zeich­ne­te sich am Sonntag zunächst noch nicht ab. Viel Zeit bleibt Bundes­re­gie­rung, Fraktio­nen und Ländern nicht: Schon am Diens­tag will das Kabinett die gesetz­li­chen Vorga­ben auf den Weg bringen.

Weil die Länder verein­bar­te Maßnah­men gegen die dritte Infek­ti­ons­wel­le unein­heit­lich umsetz­ten und die Infek­ti­ons­la­ge zugleich mehr und mehr außer Kontrol­le gerät, soll die «Notbrem­se» gesetz­lich veran­kert werden. In Landkrei­sen mit mehr als 100 wöchent­li­chen Neuin­fek­tio­nen pro 100.000 Einwoh­nern müssten Locke­run­gen dann verpflich­tend zurück­ge­nom­men werden. Das beträ­fe aktuell mehr als die Hälfte der Landkrei­se in Deutschland.

Die Details wollte der Bund am Wochen­en­de mit den Fraktio­nen und den Ländern möglichst schon festzur­ren. In der Formu­lie­rungs­hil­fe, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, schlägt er unter anderem Ausgangs­be­schrän­kun­gen von 21.00 Uhr abends bis 5.00 Uhr morgens vor. Dabei soll es nur wenige Ausnah­men geben, etwa für medizi­ni­sche Notfäl­le oder den Weg zur Arbeit, nicht aber für abend­li­che Spazier­gän­ge allei­ne. Für Schüle­rin­nen und Schüler ist eine Testpflicht im Gespräch. Erst ab einer Inzidenz von 200 an drei aufein­an­der­fol­gen­den Tagen in einem Landkreis sollen die Schulen schließen.

Kanzle­rin Angela Merkel (CDU) sprach sich nach Infor­ma­tio­nen der Deutschen Presse-Agentur bei der Klausur der Unions­frak­ti­ons­spit­ze erneut für einen konse­quen­ten Lockdown aus. Das exponen­ti­el­le Wachs­tum der Infek­ti­ons­zah­len müsse gebro­chen werden. Unions­frak­ti­ons­chef Ralph Brink­haus zeigte sich optimis­tisch, dass der Bundes­tag noch in dieser Woche über das Gesetz entschei­den kann. Dabei setze er auch auf die Mitar­beit der anderen Fraktio­nen, die einer Frist­ver­kür­zung mit Zwei-Drittel-Mehrheit zustim­men müssten.

Mehre­re Fraktio­nen aller­dings halten die Vorschlä­ge des Bundes für hoch proble­ma­tisch. «Der Entwurf ist in der vorlie­gen­den Fassung für die Frakti­on der Freien Demokra­ten nicht zustim­mungs­fä­hig», schrieb FDP-Frakti­ons­chef Chris­ti­an Lindner an Merkel und Gesund­heits­mi­nis­ter Jens Spahn (CDU). Das Schrei­ben liegt der dpa vor, zuvor hatten die Zeitun­gen der Funke Medien­grup­pe darüber berich­tet. Der erste parla­men­ta­ri­sche Geschäfts­füh­rer der Links­frak­ti­on, Jan Korte, schrieb an das Gesund­heits- und Innen­mi­nis­te­ri­um: «Insbe­son­de­re die Frage der Ausgangs­sper­ren ist ein derma­ßen tiefer Eingriff in die Bewegungs­frei­heit der Bürge­rin­nen und Bürger, der nicht einfach en passant beschlos­sen werden kann.»

Sachsens Minis­ter­prä­si­dent Micha­el Kretschmer (CDU) forder­te, dass die Ausgangs­be­schrän­kun­gen erst ab einer Inzidenz von 200 greifen. Die FDP kriti­sier­te sie als unver­hält­nis­mä­ßig. «Beispiels­wei­se geht vom abend­li­chen Spazier­gang eines geimpf­ten Paares keiner­lei Infek­ti­ons­ge­fahr aus», gab Lindner zu bedenken.

SPD, Grünen und Linken setzten sich für eine Testpflicht für Unter­neh­men ein: Die Firmen sollten Mitar­bei­tern, die nicht im Homeof­fi­ve arbei­ten könnten, verpflich­tend regel­mä­ßi­ge Tests anbie­ten. Außer­dem müssten Homeof­fice und das Tragen medizi­ni­scher Masken am Arbeits­platz vorge­schrie­ben werden, sagte Grünen-Frakti­ons­chefin Katrin Göring-Eckardt den Zeitun­gen der Funke Medien­grup­pe. Arbeits­mi­nis­ter Huber­tus Heil (SPD) kündig­te an, er wolle die Testpflicht für Betrie­be bereits am Diens­tag im Kabinett durchsetzen.

Auch beim Thema Schulen gibt es Dissens. Während Kretschmer verlang­te, der Bund solle sich hier raushal­ten, forder­te Göring-Eckardt eine Verschär­fung. Bereits ab 100 wöchent­li­chen Neuin­fek­tio­nen pro 100.000 Einwoh­ner in einem Landkreis müsse es Wechsel­un­ter­richt geben und die Kitas müssten auf Notbe­treu­ung umstellen.

Die FDP kriti­sier­te die allei­ni­ge Orien­tie­rung an dem Inzidenz­wert 100. «Als Auslö­ser für massi­ve Freiheits­ein­schrän­kun­gen ist eine schwan­ken­de Zahl, die auch nur politisch gegrif­fen ist, nicht geeig­net», sagte Lindner. Kretschmer forder­te eine als zusätz­li­chen Faktor die Leistungs­fä­hig­keit des Gesund­heits­sys­tems. «Das ist aus meiner Sicht eine zwingen­de Voraus­set­zung für Akzep­tanz in der Bevölkerung.»

Nieder­sach­sens Innen­mi­nis­ter Boris Pisto­ri­us (SPD) warnte, der Bund habe keine Exper­ti­se für Krisen­be­wäl­ti­gung oder Krisen­kom­mu­ni­ka­ti­on. «Deshalb wäre es auch keine gute Idee, die Länder jetzt mitten in der Krise zu entmach­ten. Das wäre ein großer Fehler», sagte er der «Welt». Die Corona-Regeln sollten auch künftig regio­nal an das Infek­ti­ons­ge­sche­hen angepasst werden. Minis­ter­prä­si­dent Stephan Weil (SPD) erklär­te, die nieder­säch­si­schen Regelun­gen seien ohnehin «eher stren­ger und werden das auch bleiben». Der Entwurf müsse trotz­dem überar­bei­tet werden, dem Bund fehlten «die in den Ländern in den letzten Monaten gemach­ten Erfahrungen».

Die Minis­ter­prä­si­den­tin von Mecklen­burg-Vorpom­mern, Manue­la Schwe­sig, dagegen stell­te sich hinter die Pläne der Bundes­re­gie­rung. «Wir sind offen für die Geset­zes­än­de­rung, wir finden schon lange, dass bestimm­te Beschrän­kun­gen und auch Instru­men­te in ein Bundes­ge­setz gehören. Zum Beispiel die Ausgangs­be­schrän­kun­gen», sagte die SPD-Politi­ke­rin den Sendern RTL und ntv. Zugleich müsse es aber mehr Unter­stüt­zung etwa für die Gastro­no­mie geben. Die SPD-Frakti­on im Bundes­tag forder­te ebenfalls neue Hilfsprogramme.

Auch der Landkreis­tag verur­teil­te die Pläne der Bundes­re­gie­rung scharf. «Der vorlie­gen­de Entwurf ist ein in Gesetz gegos­se­nes Misstrau­ens­vo­tum gegen­über Ländern und Kommu­nen», sagte Präsi­dent Reinhard Sager den Zeitun­gen der Funke-Medien­grup­pe. «Damit verlässt der Bund den Modus gemein­sa­mer Krisen­be­kämp­fung und will direkt vor Ort wirken­de Maßnah­men anord­nen.» Damit würden zum Beispiel «verant­wort­ba­re Modell­ver­su­che über einer Inzidenz von 100» praktisch unterbunden.

Der frühe­re Vorsit­zen­de des Deutschen Richter­bunds, Jens Gnisa, zeigte sich fassungs­los. «Der Bund schießt deutlich über alle Verhält­nis­mä­ßig­keits­gren­zen hinaus», schrieb der Direk­tor des Amtsge­richts Biele­feld auf Facebook. Es gehe bei den Vorschlä­gen nicht mehr um einen Brücken-Lockdown von zwei oder drei Wochen, sondern um einen «nicht mehr einzu­fan­gen­den Dauerlockdown».

Tatsäch­lich sollen die Regelun­gen wieder gelockert werden, wenn die Inzidenz in einem Landkreis drei Tage lang unter 100 liegt.

Inten­siv­me­di­zi­ner forder­ten vor allem ein schnel­les Handeln. Die Lage sei jetzt schon «drama­tisch», sagte Gernot Marx, der Präsi­dent der Deutschen Inter­dis­zi­pli­nä­ren Verei­ni­gung für Inten­siv- und Notfall­me­di­zin (DIVI), dem ARD-Haupt­stadt­stu­dio. Am besten solle das Gesetz schon kommen­de Woche in Kraft treten, «damit wir ganz schnell das Gesund­heits­sys­tem und insbe­son­de­re die Inten­siv­sta­tio­nen wieder entlas­ten können».