Auf Deutsch­lands Inten­siv­sta­tio­nen rollt in der Corona-Pande­mie eine Covid-19-Welle zu, die jene vom Frühjahr weit übertref­fen könnte. In 14 Tagen kämen die großen Zentren unter Maximal­be­las­tung, warnt ein Exper­te für Inten­siv- und Notfallmedizin.

«Es ist jetzt schon nachweis­lich schlim­mer als im Frühjahr», sagt Uwe Janssens, Präsi­dent der Deutschen Inter­dis­zi­pli­nä­ren Verei­ni­gung für Inten­siv- und Notfall­me­di­zin (DIVI), der Deutschen Presse-Agentur. «In 14 Tagen haben wir die schwe­ren Krank­heits­fäl­le und unsere großen Zentren kommen unter Maximal­be­las­tung.» Klini­ken müssten sich deshalb bereits jetzt fragen, bei welchen Patien­ten sie verein­bar­te Opera­tio­nen guten Gewis­sens verschie­ben könnten. Die Devise könne nur lauten: «Fahrt runter!».

Die Zahl der regis­trier­ten Corona-Neuin­fek­tio­nen in Deutsch­land hat mit 16.774 Fällen binnen eines Tages am Donners­tag erneut einen Höchst­wert erreicht. Der bishe­ri­ge Rekord­wert vom Vortag lag nach Angaben des Robert Koch-Insti­tuts bei 14.964 Fällen.

In Berlin, Bayern und Nordrhein-Westfa­len seien einige Klini­ken schon gut mit Covid-19-Patien­ten belegt, andere Erkrank­te würden bereits verdrängt, sagte Stefan Kluge, Leiter der Inten­siv­me­di­zin am Univer­si­täts­kli­ni­kum Hamburg-Eppen­dorf (UKE). Die Lage sei «absolut besorg­nis­er­re­gend». Von den Infizier­ten müssten etwa fünf Prozent im Kranken­haus behan­delt werden, zwei Prozent auf der Inten­siv­sta­ti­on, so Kluge. Über 70-Jähri­ge hätten ein Todes­ri­si­ko von über 50 Prozent.

Das Problem ist dabei nicht so sehr die Anzahl der Inten­siv­bet­ten. «Wir haben mehr Betten und mehr Beatmungs­ge­rä­te als zu Beginn der Pande­mie. Aber wir haben nicht eine müde Maus mehr beim Perso­nal», sagte Janssens der dpa. «Bis jetzt sind wir zurecht­ge­kom­men. Aber wir müssen die Pflege­per­so­nal-Unter­gren­zen wieder ausset­zen, wenn das so weiter­geht.» Seine Verei­ni­gung führt ein Regis­ter, das die bundes­weit freien Inten­siv­bet­ten anzeigt. Damit soll auch eine Verle­gung aus stark ausge­las­te­ten Klini­ken in Häuser mit Kapazi­tä­ten ermög­licht werden. Die Zahlen werden täglich aktua­li­siert. Die Inten­siv­bet­ten sollen dabei mit dem nötigen Pflege­per­so­nal berech­net werden.

Doch der einhel­li­ge Tenor aus vielen deutschen Uni-Klini­ken lautet Janssens zufol­ge jetzt schon: Es gibt auch eindeu­tig mehr Infek­tio­nen unter Klinik-Mitar­bei­tern. «Wir haben im März und April kaum Infek­tio­nen gehabt, die jemand von draußen herein­ge­tra­gen hat», erläu­tert er. «Jetzt haben wir in kürzes­ter Zeit Mitar­bei­ter, die positiv sind. Sie sind sofort raus.» Andere hätten engen Kontakt zu positiv Getes­te­ten gehabt. «Die sind dann auch noch weg.» Das Schicht­sys­tem auf Inten­siv­sta­tio­nen könne damit schnell aus den Fugen geraten. Ein beatme­ter Covid-19-Patient braucht allein bis zu fünf Schwes­tern oder Pfleger.

Vor einem Perso­nal-Notstand hatte in dieser Woche bereits die Deutsche Gesell­schaft für Fachkran­ken­pfle­ge gewarnt. «Wenn es zu einem massi­ven Anstieg von Corona-Patien­ten in den Inten­siv­sta­tio­nen kommt, werden nicht alle fachge­recht betreut werden können», hieß es. Nicht, weil es an Inten­siv­bet­ten mange­le, sondern an
quali­fi­zier­tem Fachpflegepersonal.

«Wir richten unseren Aufruf auch an alle Mitar­bei­ter im Kranken­haus: “Leute, ihr seid system­re­le­vant. Auch, wenn ihr das Kranken­haus verlasst”», berich­tet Janssens, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Inter­nis­ti­sche Inten­siv­me­di­zin am St.-Antonius-Hospital im nordrhein-westfä­li­schen Eschwei­ler. Da sei eine Party einfach nicht der richti­ge Zeitpunkt. Er selbst sei großer Opern- und Theater­fan. «Ich vermis­se das wahnsin­nig», ergänz­te Janssens. «Aber ich sehe es als gesell­schaft­li­che Aufga­be und Verpflich­tung an, mich da zurück­zu­hal­ten. Damit schüt­ze ich viele, viele andere.»

Er sei nicht sauer, er sei vielmehr traurig über die Entwick­lung der Infek­ti­ons­zah­len. «Der persön­li­che Spaß ist vielen wichti­ger als die Gemein­schaft», urteilt Janssens. Die momen­ta­ne Lage habe seiner Ansicht nach viel mit einer egois­ti­schen Grund­hal­tung zu tun. «Wenn die Leute mehr “du” denken würden, liefe es sicher besser. Ich sage gern: “Kommt doch mal eine Stunde auf die Inten­siv­sta­ti­on und guckt euch einen Covid-19-Patien­ten an. Wie er da auf dem Bauch liegt und was die Schwes­tern da leisten müssen.”»

Es sei offen­sicht­lich nicht gelun­gen der Bevöl­ke­rung klarzu­ma­chen, was AHA-Regeln sind. Alle gut gemein­ten Hinwei­se haben da aus Janssens Sicht nichts gebracht. «Deshalb wird man um eine Strate­gie­än­de­rung nicht herum­kom­men.» Ein Lockdown? Unter Infek­ti­ons­schutz-Gesichts­punk­ten sei es natür­lich toll, wenn alle drei Wochen zuhau­se bleiben, sagte der Medizi­ner. «Aber dann haben wir eben in sechs Wochen die nächs­te Welle. Wir müssen endlich in eine Nachhal­tig­keits-Debat­te einsteigen.»

Ein Blick auf die derzeit nur langsam steigen­de Zahl der Todes­op­fer tauge nicht zur Einschät­zung der aktuel­len Lage, sagte auch Janssens Kolle­ge Stefan Kluge in Hamburg. «Wir müssen auf die Zahl der Inten­siv­pa­ti­en­ten gucken. Dann wissen wir, wohin die Reise geht.» Derzeit gehe die Kurve steil nach oben. Es dauere im Schnitt zehn Tage, bis Patien­ten mit Sympto­men auf die Inten­siv­sta­ti­on verlegt werden müssten. Die Aufent­halts­dau­er auf der Inten­siv­sta­ti­on bei beatme­ten Patien­ten betra­ge zwei bis drei Wochen. Das bedeu­te, dass sich die Zahl der Neuin­fek­tio­nen erst mit einer Verzö­ge­rung von drei bis vier Wochen auf die Zahl der Todes­fäl­le auswirke.