Kiew (dpa) — In nur wenigen Tagen erobert die Ukrai­ne im Osten des Landes eine Fläche größer als das Saarland zurück. Kiew will jetzt schnell weite­re Waffen und Panzer, um den Druck hoch zu halten.

Das ukrai­ni­sche Militär hat mit seiner Gegen­of­fen­si­ve im Osten des Landes Erfolg. Sechs­ein­halb Monate nach dem Einmarsch in den Nachbar­staat ließ Moskau seine Einhei­ten einen Großteil der ukrai­ni­schen Region Charkiw an der Grenze zu Russland räumen, wie das russi­sche Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um auf Karten zeigte. Der ukrai­ni­sche General­stab melde­te umfang­rei­che Gelän­de­ge­win­ne. Unter dem Eindruck der Verlus­te werden in Moskau auch Stimmen nach Gesprä­chen mit der Ukrai­ne laut. Russland lehne Verhand­lun­gen nicht ab, sagte Außen­mi­nis­ter Sergej Lawrow.

Zugleich fordert die Ukrai­ne vom Westen weiter Panzer und Waffen, um den Druck auf die russi­schen Truppen hoch zu halten. Außen­mi­nis­ter Dmytro Kuleba unter­strich nach einem Treffen mit Amtskol­le­gin Annale­na Baerbock (Grüne) in Kiew, dass deutsche Leopard-2-Panzer dringend benötigt würden. Baerbock äußer­te sich bei ihrem zweiten Überra­schungs­be­such in dem Kriegs­land zunächst zurück­hal­tend. Andere führen­de Politi­ker von SPD und FDP sprachen sich für mehr Liefe­run­gen, etwa den Panzer Leopard 2, aus.

Angesichts des wochen­lan­gen Beschus­ses wurde das Kernkraft­werk Saporischschja herun­ter­ge­fah­ren. Außen­mi­nis­te­rin Baerbock forder­te Russland auf, seine Truppen vom Gelän­de des größten Atomkraft­werks Europas abzuzie­hen. In Deutsch­land wird derweil vor einer Überlas­tung des Strom­net­zes gewarnt.

Russi­sche Armee räumt Großteil des Gebiets Charkiw in der Ostukraine

Moskaus Truppen zogen sich komplett auf eine Linie hinter die Flüsse Oskil und Siwers­kyi Donez zurück, wie das russi­sche Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um auf Karten zeigte. Kommen­tiert wurde der Rückzug nicht. Zuvor war von einer «Umgrup­pie­rung» die Rede, um die Einhei­ten im Donez­ker Gebiet zu verstär­ken. Anfang der Woche hatte die russi­sche Armee noch etwa ein Drittel des Charki­wer Gebiets kontrol­liert. Der ukrai­ni­sche General­stab bezif­fer­te die Gelän­de­ge­win­ne nun auf mehr als 3000 Quadrat­ki­lo­me­ter — eine Fläche deutlich größer als das Saarland. Zuletzt hatte Russland rund 125.000 Quadrat­ki­lo­me­ter besetzt gehal­ten — das ist etwa ein Fünftel des ukrai­ni­schen Staats­ge­bie­tes inklu­si­ve der Halbin­sel Krim.

Gegen­of­fen­si­ve macht monate­lan­gen russi­schen Vormarsch wett

Mit ihrer erst zu Wochen­be­ginn gestar­te­ten Gegen­of­fen­si­ve hat die Ukrai­ne laut US-Exper­ten inner­halb von fünf Tagen mehr Gelän­de zurück­ge­won­nen als die russi­schen Truppen seit April besetzt haben. «Die Befrei­ung von Isjum wird der größte militä­ri­sche Erfolg der Ukrai­ne seit dem Sieg in der Schlacht vor Kiew im März», urteil­te das Insti­tu­te for the Study of the War (ISW) in einer Lageana­ly­se. Damit sei der von Russland geplan­te Vormarsch auf den Donbass von Norden her geschei­tert, meinten die Exper­ten. Offen­bar schaff­ten nicht alle russi­schen Truppen den Rückzug. Im Raum Charkiw seien feind­li­che Einhei­ten von den Versor­gungs­we­gen abschnit­ten und in Panik, teilte der ukrai­ni­sche General­stab mit. 400 Russen seien an einem Tag gestor­ben. Die Angaben sind unabhän­gig nicht zu überprüfen.

Lawrow: Russland lehnt Verhand­lun­gen mit der Ukrai­ne nicht ab

Nach den schwe­ren Nieder­la­gen rund um Charkiw stellt Moskau wieder Verhand­lun­gen mit Kiew in Aussicht. «Russland lehnt Verhand­lun­gen mit der Ukrai­ne nicht ab, doch je länger der Prozess hinaus­ge­zö­gert wird, desto schwe­rer wird es, sich zu einigen», sagte Außen­mi­nis­ter Sergej Lawrow im Staats­fern­se­hen. Die Unter­re­dun­gen, die kurz nach Beginn des russi­schen Angriffs­kriegs gegen das Nachbar­land am 24. Febru­ar begon­nen hatten, sind seit Monaten ausge­setzt. Moskau macht Kiew für den Verhand­lungs­stopp verant­wort­lich, stellt zugleich aber harte Bedin­gun­gen für einen Frieden, darun­ter hohe Gebietsverluste.

Ukrai­ne und Ampel-Politi­ker fordern Kampf­pan­zer für Gegenoffensive

«Jeden Tag, an dem in Berlin jemand darüber nachdenkt oder darüber berät, ob man Panzer liefern kann oder nicht (…), stirbt jemand in der Ukrai­ne, weil der Panzer noch nicht einge­trof­fen ist», sagte der ukrai­ni­sche Außen­mi­nis­ter Kuleba am Samstag in Kiew. Seine Amtskol­le­gin Baerbock sagte, sie wisse, dass die Zeit drängt, gab aber keine konkre­ten Zusagen. Sie versprach, die Ukrai­ne «so lange wie nötig» zu unterstützen.

FDP-Politi­ke­rin Marie-Agnes Strack-Zimmer­mann sagte der dpa, dass Deutsch­land umgehend geschütz­te Fahrzeu­ge, den Schüt­zen­pan­zer Marder und den Kampf­pan­zer Leopard 2 liefern müsse. Man dürfe jetzt nicht zaudern und zögern. Der SPD-Außen­po­li­ti­ker Micha­el Roth sprach sich ebenfalls für die Liefe­rung neuer Waffen aus.

Kernkraft­werk Saporischschja wird heruntergefahren

«Es wurde entschie­den, den Reaktor­block Nummer sechs in den sichers­ten Zustand — den Kaltzu­stand — zu verset­zen», teilte die ukrai­ni­sche Atombe­hör­de Enerhoatom zum Kraft­werk Saporischschja mit. Das AKW gerät seit Wochen immer wieder unter Beschuss. Russland und die Ukrai­ne geben sich gegen­sei­tig die Schuld dafür. Laut Enerhoatom arbei­te­te das AKW seit Tagen im «Insel­be­trieb». Das heißt, es produ­zier­te nur noch Strom zur Eigen­ver­sor­gung, weil alle Verbin­dungs­li­ni­en zum ukrai­ni­schen Strom­netz unter­bro­chen waren. Am Samstag­abend sei eine Leitung wieder herge­stellt worden. Über diese Leitung soll die Anlage versorgt werden.

Deutsche Kommu­nen warnen vor Strom­aus­fäl­len durch Heizlüfter

In Deutsch­land wurden Warnun­gen vor einer Überlas­tung des Strom­net­zes im Winter laut. Der Städte- und Gemein­de­bund spricht von drohen­den, flächen­de­cken­den Strom­aus­fäl­len gewarnt, wenn etwa aufgrund der Gaskri­se massiv elektri­sche Heizlüf­ter ans Netz gehen. Exper­ten halten das deutsche Strom­netz aller­dings für gut gewappnet.