BERLIN (dpa) — Wider­stand gegen geplan­te Ausgangs­be­schrän­kun­gen — Unter­stüt­zung für durch­grei­fen­de Maßnah­men: Die geplan­te Bundes-Notbrem­se löst eine Kontro­ver­se aus.

Mit einem hitzi­gen Schlag­ab­tausch hat der Bundes­tag die Beratun­gen über die geplan­te bundes­wei­te Corona-Notbrem­se begon­nen. Bundes­kanz­le­rin Angela Merkel (CDU) rief zur Eile auf.

«Jeder Tag früher, an dem die Notbrem­se bundes­weit angewandt ist, ist ein gewon­ne­ner Tag», sagte Merkel am Freitag im Plenum. Auf den Inten­siv­sta­tio­nen gibt es bereits Engpäs­se etwa in Köln, Bremen, Berlin, in Thürin­gen und Sachsen. Patien­tin­nen und Patien­ten werden in andere Regio­nen ausge­flo­gen, wie die Inten­siv­me­di­zi­ner-Verei­ni­gung DIVI in einer Exper­ten­an­hö­rung des Bundes­tags zu dem geplan­ten Gesetz mitteilte.

Eine generel­le Ableh­nung der Bundes­plä­ne signa­li­sier­ten die AfD und die Linke. Die FDP hält ein bundes­wei­tes Vorge­hen für nötig, droht aber trotz­dem mit Verfas­sungs­kla­ge wegen den geplan­ten Ausgangs­be­schrän­kun­gen ab 21.00 Uhr. Unter­des­sen wurden 25.831 neue Corona­fäl­le gemel­det. Die Zahl der auf Inten­siv­sta­tio­nen versorg­ten Covid-19-Patien­tin­nen und ‑patien­ten stieg um 61 auf 4740.

Merkel sagte: «Das Virus verzeiht keine Halbher­zig­kei­ten, sie machen alles nur noch schwe­rer. Das Virus verzeiht kein Zögern, es dauert alles nur noch länger. Das Virus lässt nicht mit sich verhan­deln, es versteht nur eine einzi­ge Sprache, die Sprache der Entschlos­sen­heit.» Im Bundes­tag wird nun fieber­haft über Details des geplan­ten Geset­zes verhan­delt. Am Mittwoch soll es beschlos­sen werden. Kurz darauf soll der Bundes­rat sein Votum abgeben. Kontakt­be­schrän­kun­gen zum Brechen der dritten Welle sollen in Kreisen und Städten ab einer Inzidenz von 100 Neuin­fek­tio­nen pro 100.000 Einwoh­nern in einer Woche greifen. Zuletzt lagen rund 350 von mehr als 400 Kreisen über dieser Schwelle.

«Die Inten­siv­me­di­zi­ner senden einen Hilfe­ruf nach dem anderen — wer sind wir denn, wenn wir diese Notru­fe überhö­ren würden?», so Merkel. Die Notbrem­se solle die drohen­de Überlas­tung des Gesund­heits­we­sens verhin­dern. Dann könnten mit syste­ma­ti­schem Testen bei niedri­ge­ren Inziden­zen Öffnun­gen ermög­licht werden. Mit Blick auf den Frühjahrs-Lockdown 2020 sagte Merkel: «Wir haben es doch schon einmal geschafft, wir können es jetzt wieder schaffen.»

Trotz kriti­scher Haltung sagte FDP-Chef Chris­ti­an Lindner: «Es ist richtig, dass nun bundes­ein­heit­lich gehan­delt wird.» AfD-Frakti­ons­chefin Alice Weidel hinge­gen sprach von einem Angriff auf Grund- und Freiheits­rech­te. «Sie misstrau­en den Bürgern, deshalb wollen Sie sie tagsüber gängeln und nachts einsper­ren», sagte Weidel. Links­frak­ti­ons­chef Dietmar Bartsch warf der Regie­rung Schei­tern vor. «Wir haben seit Novem­ber einen perma­nen­ten Halb-Lockdown, und Sie sind immer nach der Welle.» Bartsch stell­te rasche­re Fortschrit­te beim Impfen wie in den USA und eine natio­na­le Teststra­te­gie als Lösun­gen dagegen. Koali­ti­ons­ab­ge­ord­ne­te unter­stütz­ten das Gesetz.

AUSGANGSBESCHRÄNKUNGEN — WIE WEITGEHEND?

Mit Blick auf die geplan­ten Ausgangs­be­schrän­kun­gen kündig­te Lindner Vorschlä­ge an, das Gesetz «verfas­sungs­fest» zu machen. Die FDP werde vors Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt ziehen, wenn darauf nicht einge­gan­gen werde. Bisher sei geplant, «dass ein geimpf­tes Ehepaar (…) daran gehin­dert wird, allei­ne nach 21 Uhr vor die Tür zu treten zum Abend­spa­zier­gang». Merkel vertei­dig­te die Pläne. Andere Staaten hätten solche Maßnah­men «zum Teil erheb­lich restrik­ti­ver» prakti­ziert. «Es geht darum, abend­li­che Besuchs­be­we­gun­gen von einem Ort zum anderen – im Übrigen auch unter Benut­zung des öffent­li­chen Perso­nen­nah­ver­kehrs — zu reduzie­ren.» Die Vortei­le überwö­gen. SPD-Gesund­heits­exper­te Karl Lauter­bach sagte: «Es wird allei­ne nicht reichen, aber in keinem Land ist es gelun­gen, eine Welle mit Varian­te B.1.1.7 noch einmal in den Griff zu bekom­men, ohne dass man nicht auch das Instru­ment der Ausgangs­be­schrän­kung, und nicht ‑sperre, genutzt hätte.»

Rechts­wis­sen­schaft­ler bewer­ten nächt­li­che Ausgangs­be­schrän­kun­gen unter­schied­lich. In der Bundes­tags­an­hö­rung waren die Juris­ten dazu unter­schied­li­cher Meinung. Nach Einschät­zung des Berli­ner Physi­kers Kai Nagel kann so eine Beschrän­kung die Verbrei­tung des Corona­vi­rus spürbar reduzie­ren. Aber statt abends Ausgän­ge pauschal zu verbie­ten, plädier­te Nagel in der Anhörung dafür, nur den Ausgang für priva­te Besuche in Innen­räu­men zu verbie­ten — dafür rund um die Uhr. Hinter­grund ist das weit höhere Infek­ti­ons­ri­si­ko drinnen. Die rhein­land-pfälzi­sche Landes­haupt­stadt Mainz setzte eine abend­li­che Ausgangs­sper­re aus, nachdem das Verwal­tungs­ge­richt in einem Eilver­fah­ren die aufschie­ben­de Wirkung angeord­net hatte.

STREIT UM SCHULE:

Grünen-Frakti­ons­chefin Katrin Göring-Eckardt sagte: «Erst ab einer Inzidenz von 200 zu handeln, ist zu spät», das sei kein Schutz für Schüler und Schüle­rin­nen und kein Schutz für Eltern. Geplant ist, dass Schulen in Kreisen und Städten mit über 200 Corona-Neuin­fek­tio­nen pro Woche und 100.000 Einwoh­nern keinen Präsenz­un­ter­richt mehr anbie­ten. Ab einer Inzidenz von 100 soll es bei Präsenz­un­ter­richt zwei Corona-Tests pro Woche geben. «Wir wissen, dass die Mutati­on jetzt sehr stark Kinder betrifft, dass die Kinder ihre Eltern anste­cken», sagte Göring-Eckardt. Die Grünen wollten entspre­chen­de Nachbes­se­run­gen. Zugleich kriti­sier­te sie, dass das Gesetz nicht schnel­ler als geplant auf den Weg gebracht werden soll.

VORGEHEN DER LÄNDER:

In Mecklen­burg-Vorpom­mern und Baden-Württem­berg soll die Corona-Notbrem­se schon ab Montag gelten. In einigen Bundes­län­dern gelten schon stren­ge­re Regeln, die denen der Notbrem­se meist mit wenigen Ausnah­men entspre­chen — so etwa in Bayern, Rhein­land-Pfalz, Branden­burg und Schles­wig-Holstein. Die Staats­kanz­lei­en in Hessen und im Saarland haben bislang noch keine Verschär­fung der aktuell gelten­den Maßnah­men geplant.

NICHT NUR FRUST:

In der Pande­mie hat sich die Lebens­zu­frie­den­heit vieler Bürger einer Umfra­ge zufol­ge in einigen Berei­chen verbes­sert. So schät­zen zahlrei­che Erwach­se­ne ihre Gesund­heit wie ihren Schlaf als deutlich besser ein, wie Daten des «Sozio-oekono­mi­schen Panels» mit mehr als 6500 Menschen zeigen, die im April und Juni 2020 sowie Januar 2021 befragt wurden. Einbu­ßen gibt es demnach bei Freizeit und Famili­en­le­ben. Der Philo­soph Richard David Precht wies auf die überschau­ba­re Dauer der geplan­ten Grund­rechts­ein­schrän­kun­gen hin: «Ich habe keine Befürch­tun­gen, dass hier maßlos überre­agiert wird oder die Grund­rechts­ein­schrän­kun­gen nicht sofort wieder rückgän­gig gemacht werden, sowie wir aus dem Gröbs­ten der Pande­mie raus sind», sagte er der «Augsbur­ger Allgemeinen».

Von Basil Wegener, Marti­na Herzog und Jörg Ratzsch, dpa