KIEW/MOSKAU/WASHINGTON (dpa) — Russland droht angesichts westli­cher Waffen­lie­fe­run­gen mit mehr Angrif­fen auf die Ukrai­ne. Ungeach­tet dessen sichern die USA dem überfal­le­nen Land neue Raketen­wer­fer zu. Die Entwicklungen.

Zur Unter­stüt­zung im bereits seit 148 Tagen andau­ern­den Krieg gegen Russland haben die USA der Ukrai­ne weite­re Mehrfach-Raketen­wer­fer vom Typ Himars zugesi­chert. Die Führung in Kiew zeigte sich dankbar, fordert aber dringend auch die Liefe­rung von Luftab­wehr­sys­te­men. Ein Sieg seines Landes gegen die russi­schen Angrei­fer würde ganz Europa schüt­zen, beton­te Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj in seiner nächt­li­chen Videoansprache.

Kreml­chef Wladi­mir Putin kündig­te unter­des­sen den Wieder­auf­bau von Städten im Donbass an, die durch den von ihm angeord­ne­ten Krieg überhaupt erst zerstört wurden. Moskau stellt sich immer wieder als Schutz­macht der selbst­er­nann­ten Volks­re­pu­bli­ken Luhansk und Donezk im Osten der Ukrai­ne dar und recht­fer­tigt den Angriff auf das Nachbar­land unter anderem mit dem angeb­li­chen Schutz der dort leben­den Menschen.

Dass es Russland tatsäch­lich aber um viel mehr geht als den Donbass, bestä­tig­te nun auch Außen­mi­nis­ter Sergej Lawrow: Seine Drohung, noch weite­re Gebie­te einzu­neh­men, wurde in Kiew erwar­tungs­ge­mäß mit großer Wut aufgenommen.

Medwe­dew: «Ukrai­ne könnte von der Weltkar­te verschwinden»

Derweil stellen führen­de russi­sche Politi­ker einmal mehr das weite­re Fortbe­stehen der Ukrai­ne als souve­rä­nen Staat infra­ge. Dmitri Medwe­dew, Ex-Präsi­dent und jetzi­ger Vizechef des russi­schen Sicher­heits­ra­tes, veröf­fent­lich­te am Donners­tag eine Liste von Dingen, «an denen Russland nicht schuld ist». Ein Punkt lautet: «Daran, dass die Ukrai­ne infol­ge aller Gescheh­nis­se die Reste staat­li­cher Souve­rä­ni­tät verlie­ren und von der Weltkar­te verschwin­den könnte.»

Das Nachbar­land habe bereits 2014 den Großteil seiner Souve­rä­ni­tät einge­büßt, als es sich unter die «direk­te Kontrol­le des kollek­ti­ven Westens» begeben habe, behaup­te­te Medwe­dew, der zwischen 2008 und 2012 Präsi­dent war. Der 56-Jähri­ge ist ein enger Vertrau­ter von Kreml­chef Wladi­mir Putin und seit Russlands Einmarsch in die Ukrai­ne Ende Febru­ar immer wieder mit Drohun­gen und schar­fen Äußerun­gen gegen die Führung in Kiew aufgefallen.

US-Regie­rung liefert weite­re Mehrfach-Raketenwerfer

Die US-Regie­rung will der Ukrai­ne vier weite­re Mehrfach-Raketen­wer­fer vom Typ Himars liefern. US-Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Lloyd Austin sagte bei Online-Beratun­gen der sogenann­ten Ukrai­ne-Kontakt­grup­pe aus Dutzen­den Staaten, die bisher gelie­fer­ten Himars-Raketen­wer­fer hätten «auf dem Schlacht­feld so viel bewirkt». Als Teil des nächs­ten Pakets für die Ukrai­ne würden die USA außer­dem weite­re Waffen, Muniti­on und Ausrüs­tung liefern, darun­ter Raketen und Artil­le­rie­ge­schos­se. Details würden im Laufe der Woche bekanntgegeben.

Austin sagte bei einer Presse­kon­fe­renz nach den Beratun­gen, es habe «viele neue Ankün­di­gun­gen» der Vertei­di­gungs­mi­nis­ter und Armee­chefs aus den mehr als 50 teilneh­men­den Staaten gegeben. «Wir sehen, dass Länder aus der ganzen Welt weiter­hin dringend benötig­te Syste­me und Muniti­on zur Verfü­gung stellen.» Konkre­ter wurde er nicht.

Die USA sind der wichtigs­te Waffen­lie­fe­rant für die Ukrai­ne. Bislang haben sie laut US-General­stabs­chef Mark Milley neben zahlrei­chen anderen Waffen­sys­te­men bereits zwölf Himars-Syste­me geliefert.

Die ukrai­ni­sche Präsi­den­ten­gat­tin Olena Selen­s­ka hatte die USA bei einer Rede im Kapitol in Washing­ton eindring­lich um mehr Waffen und spezi­ell um Luftab­wehr­sys­te­me gebeten.

Selen­skyj: Russland nutzt Ukrai­ne als Testfeld

Präsi­dent Selen­skyj selbst warf Russland unter­des­sen vor, die Ukrai­ne als Testfeld für mögli­che Angrif­fe gegen andere europäi­sche Staaten zu nutzen. «Russland testet in der Ukrai­ne alles, was gegen andere europäi­sche Länder einge­setzt werden kann», sagte Selen­skyj. «Es fing mit Gaskrie­gen an und endete mit einer großan­ge­leg­ten Invasi­on, mit Raketen­ter­ror und nieder­ge­brann­ten ukrai­ni­schen Städten.»

Ukrai­ni­scher Außen­mi­nis­ter: Russland will Blut statt Verhandlungen

Die Ukrai­ne reagier­te empört darauf, dass Russland mit der Einnah­me weite­rer Gebie­te gedroht hatte. «Russland verwirft die Diplo­ma­tie und ist auf Krieg und Terror konzen­triert», schrieb der ukrai­ni­sche Außen­mi­nis­ter Dmytro Kuleba auf Twitter. Anstel­le von Verhand­lun­gen seien die Russen auf Blutver­gie­ßen aus. Zuvor hatte Russlands Außen­mi­nis­ter Lawrow erklärt, Moskaus Gebiets­for­de­run­gen an Kiew seien mittler­wei­le größer als noch zu Kriegs­be­ginn Ende Februar.

Nach dem Einmarsch ins Nachbar­land hatte der Kreml von Kiew vor allem die Abtre­tung der 2014 annek­tier­ten Schwarz­meer-Halbin­sel Krim sowie die der ostukrai­ni­schen Gebie­te Donezk und Luhansk gefor­dert. Die Ukrai­ne lehnte das klar ab. Nun verweist Moskau auf westli­che Waffen­lie­fe­run­gen, die angeb­lich eine Bedro­hung für die prorus­si­schen Separa­tis­ten­ge­bie­te Luhansk und Donezk darstel­len sollen. Deshalb wolle man die ukrai­ni­sche Armee noch weiter zurück­drän­gen als ursprüng­lich geplant, heißt es aus Moskau.

Russi­sche Grenz­re­gi­on wirft Ukrai­ne tödli­chen Beschuss vor

Die russi­sche Grenz­re­gi­on Belgo­rod macht die ukrai­ni­sche Seite für einen Angriff mit einem Todes­op­fer verant­wort­lich. Am Mittwoch seien die Dörfer Necho­te­jew­ka und Schurawl­jow­ka beschos­sen worden, teilte der Gouver­neur der Region mit.

In Necho­te­jew­ka seien mehre­re Häuser beschä­digt worden, außer­dem sei ein Zivilist gestor­ben. Russland, das den Krieg gegen das Nachbar­land Ukrai­ne selbst begon­nen hat, beklagt seitdem immer wieder Beschuss auch auf dem eigenen Staats­ge­biet. Die ukrai­ni­sche Seite äußert sich in der Regel nicht zu diesen Vorwürfen.

CIA: Schät­zungs­wei­se 15.000 Russen gestorben

Nach Schät­zun­gen des US-Auslands­ge­heim­diens­tes CIA kamen im Krieg gegen die Ukrai­ne auf russi­scher Seite bereits 15.000 Menschen ums Leben. Etwa dreimal so viele Russen seien bislang vermut­lich verwun­det worden, sagte CIA-Direk­tor William Burns bei einer Podiums­dis­kus­si­on während einer Sicher­heits­kon­fe­renz in Aspen im US-Bundes­staat Colora­do. «Und auch die Ukrai­ner haben gelit­ten — wahrschein­lich etwas weniger. Aber, Sie wissen schon, erheb­li­che Verlus­te», sagte Burns.

Aktuel­le Angaben der offizi­el­len Stellen in Russland zu Toten­zah­len gibt es nicht.

Verstö­ße gegen das Völkerrecht

Das Wahl- und Menschen­rechts-Büro ODIHR der Organi­sa­ti­on für Sicher­heit und Zusam­men­ar­beit in Europa (OSZE) warf den russi­schen Truppen schwer­wie­gen­de und massen­haf­te Verstö­ße gegen das humani­tä­re Völker­recht seit Kriegs­be­ginn vor. Beson­ders gravie­ren­de Fälle seien der Beschuss des Theaters voller Flücht­lin­ge in Mariu­pol Mitte März und des beleb­ten Bahnhofs von Krama­torsk Anfang April.

Entsetzt zeigten sich die Exper­ten auch über die Belage­rung von Städten, deren Bewoh­nern keine Möglich­keit zur Evaku­ie­rung gegeben worden sei. Zeugen hätten von vielen Fällen illega­ler Hinrich­tun­gen, Inhaf­tie­run­gen, Folter, sexuel­ler Gewalt und Entfüh­run­gen berichtet.

Auch die ukrai­ni­sche Armee habe gegen humani­tä­res Völker­recht versto­ßen, wenn auch in gerin­ge­rem Maße, heißt es in dem ODIHR-Bericht. Zudem würden beide Seiten im Umgang mit Kriegs­ge­fan­ge­nen das gelten­de Völker­recht verletzen.

Das wird heute wichtig

Die neuen Russland-Sanktio­nen der EU sollen heute in Kraft treten. Der Ausschuss der ständi­gen Vertre­ter der Mitglied­staa­ten brach­te in Brüssel das schrift­li­che Beschluss­ver­fah­ren auf den Weg. Es gilt als Forma­lie, da der Einlei­tung des Verfah­rens norma­ler­wei­se nur zugestimmt wird, wenn alle EU-Haupt­städ­te keine Einwän­de mehr haben.