KIEW/LWIW (dpa) — Seit Kriegs­be­ginn agiert Präsi­dent Selen­skyj von seinem gut gesicher­ten Amtssitz in Kiew aus. Nur im Gehei­men ist er gereist — doch nun kommt hoher Besuch in den Westen des Landes. Die Entwicklungen.

UN-General­se­kre­tär António Guter­res und der türki­sche Staats­chef Recep Tayyip Erdogan kommen am heute in Lwiw (Lemberg) mit dem ukrai­ni­schen Präsi­den­ten Wolodym­yr Selen­skyj zusam­men. Für die Verein­ten Natio­nen und die Türkei ist es der Versuch, knapp ein halbes Jahr nach dem russi­schen Angriff auf die Ukrai­ne den Einstieg in eine Verhand­lungs­lö­sung auszu­lo­ten. Daneben soll es um die Lage in dem von russi­schen Truppen besetz­ten AKW Saporischschja gehen und die Möglich­kei­ten einer inter­na­tio­na­len Exper­ten­mis­si­on. Selen­skyj forder­te erneut einen Abzug russi­scher Solda­ten aus Europas größtem Kernkraftwerk.

In der ostukrai­ni­schen Großstadt Charkiw schlu­gen nachts zum wieder­hol­ten Mal russi­sche Raketen ein und töteten nach vorläu­fi­gen Angaben sieben Menschen. In hefti­gen Kämpfen im Donbass konnte die ukrai­ni­sche Armee nach eigenen Angaben mehre­re Angrif­fe abweh­ren. An zwei Stellen bei der Stadt Donezk habe der Feind aber Gelän­de­ge­win­ne erzielt. Für die Ukrai­ne ist heute der 176. Tag im Abwehr­kampf gegen die russi­sche Invasi­on. Genau am ukrai­ni­schen Natio­nal­fei­er­tag kommen­de Woche am 24. August dauert der Krieg ein halbes Jahr.

Guter­res und Erdogan auf Friedensmission?

Als Vermitt­lungs­er­folg in dem Krieg haben die UN und die Türkei das Abkom­men vorzu­wei­sen, das seit Anfang August wieder Getrei­de­ex­por­te aus ukrai­ni­schen Häfen erlaubt. Erdogan teilte vor dem Treffen mit, in Lwiw solle auch die «Beendi­gung des Krieges zwischen der Ukrai­ne und Russland auf diplo­ma­ti­schem Wege erörtert» werden.

UN-Kreise sehen dies skepti­scher. Sie halten Verhand­lun­gen über eine Waffen­ru­he erst für möglich, wenn Russland oder die Ukrai­ne keine Gelän­de­ge­win­ne mehr erzie­len können und vom Ziel eines Sieges Abstand nehmen. Die Ukrai­ne will aber verlo­re­ne Gebie­te zurück­er­obern, um Lands­leu­te nicht in der Willkür der russi­schen Besat­zung zu lassen. Der ukrai­ni­sche Militär­ex­per­te Oleh Schdanow warnte Selen­skyj, jetzt einem Waffen­still­stand zuzustim­men, sei eine russi­sche Falle.

Russlands Kriegs­zie­le laufen weiter auf eine weitge­hen­de Unter­wer­fung der Ukrai­ne hinaus. Gesprä­che zwischen Kiew und Moskau waren daher bereits in den ersten Kriegs­wo­chen ohne Ergeb­nis abgebro­chen worden.

Für Selen­skyj ist die Reise in die Westukrai­ne nach Lwiw die erste öffent­lich angekün­dig­te seit dem 24. Febru­ar. Seitdem war er zwar mehrmals in der Ukrai­ne unter­wegs und hat auch die Front besucht, die Reise­plä­ne wurden aber geheim gehal­ten. Inter­na­tio­na­le Gäste empfing Selen­skyj in der Haupt­stadt Kiew, und auch deren Anrei­se fand wie bei Bundes­kanz­ler Olaf Scholz (SPD) jeweils unter Geheim­hal­tung statt.

Russland berich­tet von neuen Schüs­sen auf AKW Saporischschja

Zwischen den Verein­ten Natio­nen, der Inter­na­tio­na­len Atomener­gie­be­hör­de (IAEA), Russland und der Ukrai­ne dauert das Tauzie­hen um einen Exper­ten­be­such im Atomkraft­werk Saporischschja an. Moskau­er Diplo­ma­ten beteu­er­ten, dass Russland den Besuch unter­stüt­ze. Aller­dings geht die russi­sche Seite davon aus, dass die IAEA-Exper­ten über Russland und russisch kontrol­lier­tes Gebiet in der Ukrai­ne anrei­sen. Eine Reise über Kiew sei zu gefährlich.

Die IAEA und ihr Leiter Rafael Grossi legen aus völker­recht­li­chen Gründen Wert auf die Reise über Kiew. Sie werden darin von mehr als 40 westli­chen Ländern unter­stützt. Die Lage in dem von russi­schen Truppen besetz­ten größten Atomkraft­werk Europas beunru­higt die inter­na­tio­na­le Staaten­ge­mein­schaft seit Wochen. Immer wieder schla­gen auf dem Kraft­werks­ge­län­de Geschos­se ein, wobei sich die beiden Kriegs­par­tei­en gegen­sei­tig für den Beschuss verant­wort­lich machen. Die russi­sche Besat­zungs­ver­wal­tung berich­te­te zweimal über angeb­lich ukrai­ni­schen Beschuss auf das AKW.

Bundes­kanz­ler Scholz äußer­te «ernst­haf­te Sorge» wegen der Lage in Saporischschja. Es sei nicht akzep­ta­bel, das Kraft­werk in Gefahr zu bringen, sagte er bei einem Besuch im branden­bur­gi­schen Neurup­pin. Die Bundes­re­gie­rung werde weiter darauf hinwir­ken, eine drama­ti­sche Situa­ti­on vor Ort abzuwen­den. Selen­skyj sagte: «Nur absolu­te Trans­pa­renz und eine kontrol­lier­te Lage in und um das AKW garan­tie­ren eine Rückkehr zu norma­ler nuklea­rer Sicher­heit für den ukrai­ni­schen Staat, die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft und die IAEA».

Raketen schla­gen in Charkiw ein

Durch russi­schen Beschuss auf die ostukrai­ni­sche Großstadt Charkiw wurden mindes­tens 7 Menschen getötet und weite­re 16 verletzt. Ein Hochhaus sei getrof­fen worden, teilte Bürger­meis­ter Ihor Terechow mit. Medien berich­te­ten, dass ein Marsch­flug­kör­per einge­schla­gen sei und das Haus in Brand gesetzt habe. Selen­skyj sprach auf Telegram von einem «gemei­nen und zynischen Anschlag auf Zivilis­ten, für den es keine Recht­fer­ti­gung gibt und der nur die Hilflo­sig­keit des Aggres­sors zeigt». Charkiw war schon in den Nächten zuvor heftig von russi­scher Artil­le­rie beschos­sen worden.

Wie der ukrai­ni­sche General­stab mitteil­te, erziel­ten russi­sche Truppen im Donbass Gelän­de­ge­win­ne bei Opytne im Norden von Donezk und bei Nowomy­cha­j­liw­ka im Südwes­ten. An anderen Abschnit­ten seien Angrif­fe abgewehrt worden. Genannt wurden Ortschaf­ten nördlich von Slowjansk und im Osten und Süden der Städte Soledar und Bachmut.

Die russi­sche Luftwaf­fe versucht ukrai­ni­schen Geheim­dienst­an­ga­ben zufol­ge, nach mehre­ren Explo­sio­nen Kampf­flug­zeu­ge und Hubschrau­ber auf der Krim in Sicher­heit zu bringen. Teils würden die Flugzeu­ge ins Innere der 2014 annek­tier­ten Halbin­sel überführt, teils auf das russi­sche Festland abgezo­gen. Beobach­tet worden sei die Verle­gung von mindes­tens 24 Flugzeu­gen und 14 Hubschrau­bern. Überprüft werden konnten diese Angaben aus Kiew nicht.

London: Russen schüt­zen Panzer nur unzureichend

Russland hat nach Einschät­zung briti­scher Geheim­diens­te Proble­me beim Schutz seiner Kampf­pan­zer. Die schwe­re Beschä­di­gung vieler russi­scher Fahrzeu­ge in der Ukrai­ne hänge mit hoher Wahrschein­lich­keit damit zusam­men, dass die Panzer nicht gut genug mit sogenann­ter Reaktiv­pan­ze­rung geschützt seien, hieß es am Donners­tag in einer Mittei­lung des Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums in London. Solche Schutz­hül­len können den Angaben zufol­ge Panzer bei Beschuss vor Schäden bewahren.

Die Geheim­diens­te gehen demnach davon aus, dass viele russi­sche Truppen nicht ausrei­chend im Umgang mit solchen Schutz­hül­len geschult sind. Deshalb seien diese gar nicht an den Panzern angebracht — oder zumin­dest nicht so, dass sie explo­si­ve Geschos­se abhal­ten könnten. Seit Beginn des russi­schen Angriffs­kriegs gegen die Ukrai­ne Ende Febru­ar veröf­fent­licht die briti­sche Regie­rung regel­mä­ßig Geheim­dienst­in­for­ma­tio­nen zu dessen Verlauf. Moskau wirft London eine geziel­te Desin­for­ma­ti­ons­kam­pa­gne vor.

Das wird heute wichtig

Die Diskus­si­on über Einrei­se­be­schrän­kun­gen für Russen in der EU geht weiter. Estland im Balti­kum erkennt seit heute die von ihm selbst ausge­stell­ten Schen­gen-Visa für russi­sche Staats­bür­ger nicht mehr an und lässt diese nicht mehr einrei­sen. Die Ertei­lung neuer Visa war bereits weitge­hend einge­stellt worden. Mit Schen­gen-Visa, ausge­stellt von anderen Staaten, dürfen Russen aber weiter einrei­sen. Deutsch­land und die EU-Kommis­si­on lehnen einen Visa-Stopp ab.