KIEW/MOSKAU/ZÜRICH (dpa) — Zwar hat Moskau das Ende seiner Einbe­ru­fung von Reser­vis­ten für den Krieg in der Ukrai­ne verkün­det, aber Präsi­dent Selen­skyj hat Zweifel. Er setzt weiter auf Hilfe des Westens. Die News im Überblick.

Nach dem von Russland verkün­de­ten Ende der Teilmo­bil­ma­chung für den Krieg in der Ukrai­ne erwar­tet Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj in Kiew weite­re Einbe­ru­fungs­wel­len Moskaus. «Wir berei­ten uns darauf vor», sagte Selen­skyj in einer gestern Abend verbrei­te­ten Videobotschaft.

Moskau werde noch mehr Reser­vis­ten brauchen, meinte er mit Blick auf den Wider­stand der Ukrai­ne und den Verlust in den Reihen russi­scher Solda­ten. Und er setzt vor allem weiter auf militä­ri­sche Hilfe des Westens, um die Besat­zer zu besiegen.

Der Staats­chef reagier­te damit auf das in Moskau von Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Sergej Schoi­gu verkün­de­te Ende der Einbe­ru­fung von 300.000 Reser­vis­ten für den Krieg in der Ukrai­ne. Die Teilmo­bil­ma­chung ist in der russi­schen Gesell­schaft umstrit­ten – auch weil damit der Krieg erstmals in den meisten Famili­en greif­bar wird. Viele Einbe­ru­fe­ne sind inzwi­schen in Särgen wieder nach Russland überge­führt worden.

Hundert­tau­sen­de Russen haben aus Angst, in den Kriegs­dienst einge­zo­gen zu werden, das Land verlas­sen. In Russland sind viele Arbeits­plät­ze verwaist, weil die Menschen entwe­der im Krieg dienen oder geflo­hen sind. Dass Putin nun das Ende der Mobil­ma­chung verkün­de­te, wurde deshalb als Versuch gesehen, Männer wieder ins Land zu locken. Exper­ten warnen aber vor einer Rückkehr nach Russland, weil das Ende einer Teilmo­bil­ma­chung noch durch einen Erlass des Präsi­den­ten besie­gelt werden müsse. Das ist bisher nicht geschehen.

Selen­skyj setzt weiter auf Hilfe des Westens

Selen­skyj äußer­te sich einmal mehr auch zu den Strom­aus­fäl­len im Land durch die von russi­schen Raketen zerstör­te Energie­infra­struk­tur. Vier Millio­nen Ukrai­ner würden derzeit mit den Einschrän­kun­gen leben. Betrof­fen seien unter anderem die Haupt­stadt Kiew, die Regio­nen Sumy und Charkiw. In den besetz­ten Regio­nen hätten die russi­schen Okkupan­ten auch medizi­ni­sches Gerät aus Kranken­häu­sern entwen­det, um die Lage zu desta­bi­li­sie­ren. Betrof­fen sei etwa die Region Cherson im Süden, die Russland durch Evaku­ie­run­gen zu einer «Zone ohne Zivili­sa­ti­on» mache.

Selen­skyj dankte den USA für ein neues militä­ri­sches Hilfs­pa­ket, das dabei helfe, die besetz­ten Gebie­te zu befrei­en. Beson­ders lobte er Kanada, das als erstes Land Anlei­hen für eine halbe Milli­ar­de Dollar aufge­legt habe, um der Ukrai­ne zu helfen. Selen­skyj infor­mier­te auch über ein Telefo­nat mit der neuen italie­ni­schen Regie­rungs­chefin Giorgia Meloni, mit der er Fragen einer Zusam­men­ar­beit auf verschie­de­nen Feldern erörtert habe.

USA stellen weite­re Militär­hil­fe für Ukrai­ne bereit

Zur Unter­stüt­zung der Ukrai­ne im russi­schen Angriffs­krieg stellen die USA dem Land weite­re Militär­hil­fen im Wert von 275 Millio­nen US-Dollar zur Verfü­gung. Die Hilfe beinhal­tet zusätz­li­che Waffen, Muniti­on und Ausrüs­tung aus US-Bestän­den sowie vier Anten­nen für Satel­li­ten­kom­mu­ni­ka­ti­on, wie das Penta­gon gestern in Washing­ton mitteil­te. Den Angaben zufol­ge erhöht sich die Militär­hil­fe für die Ukrai­ne aus den USA damit auf 18,5 Milli­ar­den US-Dollar seit Beginn der Amtszeit von US-Präsi­dent Joe Biden im Januar 2021.

US-Außen­mi­nis­ter Antony Blinken teilte mit, man arbei­te daran, die Luftver­tei­di­gungs­fä­hig­keit der Ukrai­ne zu verbes­sern. Die beiden boden­ge­stütz­ten Luftver­tei­di­gungs­sys­te­me des Typs Nasams, zu deren Liefe­rung sich die Verei­nig­ten Staaten verpflich­tet hätten, würden nächs­ten Monat in die Ukrai­ne gebracht.

Militär­ex­per­te: Russi­sche Offen­siv­fä­hig­keit in der Ukrai­ne gebrochen

Der Militär­ex­per­te Niklas Masuhr sieht indes für Russland bei seinem Feldzug in der Ukrai­ne schwe­re Proble­me kommen. Desola­te Truppen­mo­ral und Waffen­man­gel stellen Russland im kommen­den Winter in der Ukrai­ne nach seiner Einschät­zung vor große Proble­me. «Auch ohne Einwir­kung der Ukrai­ner wird der Winter eine große Heraus­for­de­rung für die Russen», sagte der Forscher am angese­he­nen Center for Securi­ty Studies der Univer­si­tät ETH in Zürich der Deutschen Presse-Agentur. «Für die Russen geht es noch darum, sich über den Winter einzu­gra­ben. Die Truppen sind in so schlech­tem Zustand, dass nicht klar ist, ob sie das schaffen.»

Die Versor­gung der Truppen an der Front werde im Winter schwe­rer, das drücke weiter auf die Moral unter den Solda­ten, die schon am Boden liege. «Die russi­sche Offen­siv­fä­hig­keit in der Ukrai­ne ist gebro­chen, weite­re Vorstö­ße sind eher unwahr­schein­lich», sagte er. «Russland hat auf Defen­siv­mo­dus geschal­tet.» Gleich­zei­tig gebe es keine Anzei­chen, dass die jüngs­te Terror­kam­pa­gne mit Raketen- und Drohnen­an­grif­fen die Ukrai­ner einge­schüch­tert habe oder ihnen der Schwung ausgehe.

Er sehe täglich Berich­te von mobili­sier­ten russi­schen Truppen, die sich weiger­ten, in den Kampf zu gehen, und von Komman­deu­ren, die Unter­ge­be­ne mit Waffen­ge­walt an die Front zwingen müssten. In den Verbän­den fehle es an Zusam­men­halt, weil die Truppen mittler­wei­le zusam­men­ge­wür­felt seien, teils mit regulä­ren Solda­ten, teils mit Häftlin­gen und anderen jungen und alten Zwangs­re­kru­tier­ten. «Mit so einem Flicken­tep­pich kann man sich vertei­di­gen, aber Offen­si­ven stellen höhere Anfor­de­run­gen an Ausbil­dung und Zusammenhalt.»

Ukrai­ni­sche Offen­si­ve nicht aussichtslos

Dass ukrai­ni­sche Vorstö­ße ins Stocken geraten sind, erklä­re sich aus der Angriffs­stra­te­gie, sagte Masuhr. Die Ukrai­ner hätten zunächst dort angegrif­fen, wo abgenutz­te russi­sche Truppen weites Gelän­de zu vertei­di­gen hatten. Er hält eine ukrai­ni­sche Offen­si­ve im Gebiet Cherson im Südos­ten nicht für aussichts­los. Ein Erfolg dort sei politisch und militä­risch bedeut­sam, weil er die russi­schen Truppen im Süden und Osten trennen und neue Vorstö­ße im Süden unmög­lich machen würde.

Zudem gingen bei den Russen die Präzi­si­ons­waf­fen zur Neige. Ihnen fehle westli­che Mikro­elek­tro­nik für die weite­re Produk­ti­on, die die Regie­rung auch über Schwarz­märk­te nicht im nötigen Umfang und zu bezahl­ba­rem Preis besor­gen könne. Gleich­zei­tig stärk­ten westli­che Waffen­lie­fe­run­gen die Ukrai­ne. «Bei den Ukrai­nern geht die Kurve der Leistungs­fä­hig­keit hoch, bei den Russen runter», sagte Masuhr.

Für Verhand­lun­gen sieht er zurzeit keine Grund­la­ge. So lange Russland an dem Ziel der Vernich­tung der Ukrai­ne festhal­te, seien Gesprä­che unmög­lich. «So etwas kann es erst geben, wenn Russland sich damit abfin­det, dass die Ukrai­ne weiter existiert.»

Teheran zu Gesprä­chen mit Kiew bereit

Der Iran erklärt derweil seine Bereit­schaft, mit der Ukrai­ne in bilate­ra­len Treffen über Vorwür­fe zum Einsatz von irani­schen Drohnen durch Russland im Ukrai­ne-Krieg zu sprechen. Das sagte Irans Außen­mi­nis­ter Hussein Amirab­dol­la­hi­an in einem Telefo­nat mit seinem ukrai­ni­schen Amtskol­le­gen Dmytro Kuleba, wie es auf der Inter­net­sei­te des Außen­mi­nis­te­ri­ums in Teheran hieß. «Wir demen­tie­ren die Vorwür­fe diesbe­züg­lich und sind auch bereit, dies in bilate­ra­len techni­schen Treffen mit Kiew zu bespre­chen und auszu­räu­men», wird der irani­sche Chefdi­plo­mat zitiert.

Der Iran unter­hält Amirab­dol­la­hi­an zufol­ge zwar gute Bezie­hun­gen zu Russland und auch eine langjäh­ri­ge militä­ri­sche Zusam­men­ar­beit. Teheran sei aber gegen den Krieg in der Ukrai­ne und lehne eine direk­te Teilnah­me in dem Konflikt ab.

Was heute wichtig wird

Die Ukrai­ne arbei­tet weiter an der Instand­set­zung ihrer von russi­schen Angrif­fen mit Drohnen und Raketen zerstör­ten Energie­infra­struk­tur, damit die Menschen in der kalten Jahres­zeit Strom haben. Zugleich setzt die Ukrai­ne ihre Offen­si­ve zur Befrei­ung besetz­ter Städte fort.