KIEW/BERLIN (dpa) — Wochen­lang gab es Verstim­mun­gen zwischen Kiew und Berlin. Nun scheint alles ausge­räumt, doch Präsi­dent Selen­skyj setzt Kanzler Scholz mit einer schnel­len Einla­dung unter Druck. Das sind die Entwicklungen.

In der Ukrai­ne wächst die Angst vor verstärk­ten russi­schen Luftan­grif­fen im Zusam­men­hang mit dem bevor­ste­hen­den Moskau­er Tag des Sieges. Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj rief zu Vorsicht und Diszi­plin auf.

«Ich bitte alle unsere Bürger — und gerade in diesen Tagen -, den Luftalarm nicht zu ignorie­ren», sagte der Staats­chef in seiner abend­li­chen Video­an­spra­che. «Bitte, das ist Ihr Leben, das Leben Ihrer Kinder.» In front­na­hen Städten wie Odessa soll zwei Tage eine Ausgangs­sper­re gelten.

Russland feiert am Montag, dem 9. Mai, den sowje­ti­schen Sieg über Hitler-Deutsch­land im Zweiten Weltkrieg. Bei der tradi­tio­nel­len großen Militär­pa­ra­de in Moskau wird Präsi­dent Wladi­mir Putin sprechen. Erwar­tet wird, dass er dabei die weite­re Richtung für den zweiein­halb Monate alten Angriffs­krieg gegen die Ukrai­ne vorgibt.

Genau für diesen symbol­träch­ti­gen Tag lud Selen­skyj Bundes­kanz­ler Olaf Scholz (SPD) nach Kiew ein. Scholz könne einen «sehr starken politi­schen Schritt» unter­neh­men und am 9. Mai in die ukrai­ni­sche Haupt­stadt kommen, sagte der Präsi­dent bei einer Veran­stal­tung der Londo­ner Denkfa­brik Chatham House. In Mariu­pol wollten russi­sche Truppen am Samstag letzt­mals eine Feuer­pau­se einle­gen, um Zivilis­ten den Abzug aus dem umkämpf­ten Stahl­werk Azovs­tal zu ermöglichen.

Ukrai­ni­sche Vorbe­rei­tun­gen auf Russlands Tag des Sieges

Die Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner sollten am Wochen­en­de strikt den Anord­nun­gen der Behör­den folgen und sich an örtli­che Ausgangs­sper­ren halten, mahnte Selen­skyj. Wegen der Minen­ge­fahr sei das Betre­ten von Wäldern verbo­ten, die vom russi­schen Militär besetzt waren. Das ukrai­ni­sche Innen­mi­nis­te­ri­um kündig­te an, mit 5000 Mann zu patrouil­lie­ren, um mögli­che Provo­ka­tio­nen zu unterbinden.

Im südukrai­ni­schen Gebiet Odessa müssen die Menschen von Sonntag­abend um 22.00 Uhr Ortszeit (21.00 Uhr MESZ) bis Diens­tag­mor­gen um 5.00 Uhr Ortszeit (4.00 Uhr MESZ) zuhau­se bleiben. In der Haupt­stadt Kiew werde es keine Ausgangs­sper­re geben, sagte Bürger­meis­ter Vitali Klitsch­ko. Aber auch er riet den Menschen, zuhau­se zu bleiben. «In den kommen­den Tagen besteht eine hohe Wahrschein­lich­keit von Raketen­be­schuss in allen Regio­nen der Ukrai­ne», sagte er.

Das geschah in der Nacht

Nach ukrai­ni­schen Angaben ist es in der Nacht zum Samstag an der Front vergleichs­wei­se ruhig geblie­ben. «In den Gebie­ten Donezk und Luhansk wurden am 6. Mai acht Attacken des Feindes abgewehrt, dabei wurden drei gegne­ri­sche Panzer, acht Artil­le­rie­sys­te­me, sieben gepan­zer­te Militär­fahr­zeu­ge, ein Auto und drei Einhei­ten von Pionier­tech­nik vernich­tet», teilte der ukrai­ni­sche General­stab in seinem Lagebe­richt mit. Sturm­ver­su­che habe es vor allem um das Stahl­werk Azovs­tal gegeben.

An anderen Front­ab­schnit­ten, die in den vergan­ge­nen Wochen schwer umkämpft waren, beschränk­te sich die russi­sche Aktivi­tät hinge­gen dem Bericht zufol­ge vor allem auf militä­ri­sche Aufklä­rung und Artil­le­rie­be­schuss. So waren in der Region Isjum, von wo aus Russland einen größe­ren Vorstoß Richtung Krama­torsk plant, um die ukrai­ni­schen Einhei­ten im Donbass einzu­kes­seln, Drohnen zur Erken­nung der Vertei­di­gungs­po­si­tio­nen im Einsatz.

Die Millio­nen­stadt Charkiw und die vor Donezk gelege­nen Ortschaf­ten waren Ziel von Artil­le­rie­an­grif­fen. Auch die russi­sche Luftwaf­fe war im Einsatz. Boden­an­grif­fe wurden hinge­gen nicht gemel­det. Unabhän­gig konnten diese Angaben nicht überprüft werden.

Hat Scholz so schnell Zeit für eine Reise nach Kiew?

Zur Einla­dung Selen­sky­js an Scholz für den 9. Mai verwies ein Sprecher der Bundes­re­gie­rung auf bereits bekann­te Termi­ne. Dazu zählt der Antritts­be­such des franzö­si­schen Präsi­den­ten Emmanu­el Macron am Montag. «Am Vortag werden der Bundes­kanz­ler, seine G7-Kolle­gen und der ukrai­ni­sche Staats­prä­si­dent in einer Video-Schal­te am histo­ri­schen Jahres­tag des Weltkriegs­en­des über die Lage in der Ukrai­ne beraten», sagte der Sprecher.

Zum Krieg in der Ukrai­ne plant Scholz eine Fernseh­an­spra­che, die am Sonntag­abend im Fernse­hen übertra­gen werden soll. Ebenfalls am Sonntag reist Bundes­tags­prä­si­den­tin Bärbel Bas auf Einla­dung des ukrai­ni­schen Parla­ments­prä­si­den­ten Ruslan Stefant­schuk nach Kiew — und könnte dort mögli­cher­wei­se auch Präsi­dent Selen­skyj treffen.

Wochen­lang gab es zwischen Kiew und Berlin Verstim­mun­gen, weil ein Besuch von Bundes­prä­si­dent Frank-Walter Stein­mei­er nicht erwünscht war. Scholz hatte die Ausla­dung als Hinder­nis für eine eigene Reise bezeich­net. Am Donners­tag räumten Stein­mei­er und Selen­skyj die Irrita­tio­nen in einem Telefo­nat aus. Scholz kündig­te darauf­hin an, dass Außen­mi­nis­te­rin Annale­na Baerbock nach Kiew reisen werde.

Mehr Militär­hil­fe aus den USA

US-Präsi­dent Joe Biden gab weite­re Militär­hil­fen für die Ukrai­ne frei. Mit einem zusätz­li­chen Paket solle das Land Artil­le­rie­mu­ni­ti­on, Radar­ge­rä­te und andere Ausrüs­tung erhal­ten, kündig­te Biden an. Ein 150 Millio­nen US-Dollar (rund 142 Millio­nen Euro) schwe­res Paket sei geneh­migt worden, hieß es aus dem US-Außenministerium.

Einschließ­lich dieser Hilfen haben die USA der ehema­li­gen Sowjet­re­pu­blik seit Kriegs­be­ginn Waffen und Muniti­on im Wert von mehr als 3,8 Milli­ar­den US-Dollar (rund 3,6 Milli­ar­den Euro) zugesagt oder bereits gelie­fert. Biden hat den US-Kongress außer­dem um weite­re 33 Milli­ar­den US-Dollar (31,3 Milli­ar­den Euro) für Militär­hil­fe und humani­tä­re Unter­stüt­zung gebeten. Selen­skyj hat als Ziel ausge­ge­ben, die russi­schen Truppen aus den seit dem 24. Febru­ar erober­ten ukrai­ni­schen Gebie­ten zu vertreiben.

Nato-General­se­kre­tär Jens Stolten­berg warnte Russland vor dem Einsatz von Atomwaf­fen im Ukrai­ne-Krieg. «Unsere Botschaft ist eindeu­tig: Nach einem Einsatz von Nukle­ar­waf­fen würde es auf allen Seiten nur Verlie­rer geben», sagte Stolten­berg der «Welt am Sonntag». «Einen Atomkrieg kann man nicht gewin­nen, und er sollte nie geführt werden, das gilt auch für Russland.»

Die Allianz hat laut Stolten­berg aber keine Hinwei­se darauf, dass spezi­ell die russi­schen Nukle­ar­waf­fen seit Beginn des Krieges am 24. Febru­ar in einer höheren Bereit­schafts­stu­fe seien. Moskau hat allge­mein seine Abschre­ckungs­waf­fen in Alarm­be­reit­schaft versetzt, was als Drohung auch mit dem atoma­ren Arsenal verstan­den wird.

Der Chef der Münch­ner Sicher­heits­kon­fe­renz, Chris­toph Heusgen, schloss unter­des­sen eine Zusam­men­ar­beit mit Kreml­chef Putin nach Kriegen­de aus. «Russlands Präsi­dent hat sich von der zivili­sier­ten Welt verab­schie­det», sagte Heusgen den Zeitun­gen der Funke-Medien­grup­pe. Putin gehöre für die von Russland began­ge­nen Kriegs­ver­bre­chen vor ein inter­na­tio­na­les Gericht.

Das bringt der Tag

In Mariu­pol liegt der letzte Vertei­di­gungs­pos­ten der Ukrai­ner in Azovs­tal ständig unter russi­schem Feuer. Ziel der russi­schen Truppen ist angeb­lich, das mit Bunkern und Tunneln stark befes­tig­te Fabrik­ge­län­de bis zum 9. Mai zu erobern. Bei den bishe­ri­gen Evaku­ie­run­gen durften nur Zivilis­ten, meist Frauen, Kinder oder ältere Menschen, das Werk in Richtung ukrai­nisch kontrol­lier­tes Gebiet verlas­sen. Am Freitag waren es nach Kiewer Angaben 50 Perso­nen. Am Samstag soll es eine weite­re Flucht­mög­lich­keit geben.

Solda­ten und Verwun­de­te sitzen indes unter der Erde fest. Die Ukrai­ne versu­che, auch sie heraus­zu­ho­len, sagte Selen­skyj. «Wir arbei­ten auch an diplo­ma­ti­schen Optio­nen, um unser Militär zu retten, das immer noch auf Azovs­tal verbleibt.» Inter­na­tio­na­le Vermitt­ler seien betei­ligt. Er drohte, es werde keine Gesprä­che mehr mit Russland geben, wenn die Zivilis­ten und Solda­ten in Azovs­tal getötet würden.