KIEW (dpa) — Selen­skyj fordert noch mehr Druck des Westens auf Russland. Russland hat indes­sen nach Meinung Kiews in einer neuen Phase des Kriegs begon­nen, Gelän­de­ge­win­ne zu sichern. Die Entwick­lun­gen im Überblick.

Knapp zweiein­halb Monate nach dem Einmarsch russi­scher Truppen in die Ukrai­ne hat der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj noch mehr Druck der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft auf Moskau gefordert.

«Mit jedem Tag des Krieges nehmen die globa­len Bedro­hun­gen zu, gibt es eine neue Gelegen­heit für Russland, Insta­bi­li­tät in anderen Teilen der Welt zu provo­zie­ren, nicht nur hier in Europa», sagte Selen­skyj in seiner tägli­chen Video­an­spra­che. Derweil aber stürben in der Ukrai­ne Männer und Frauen, «die ihr Bestes geben, damit alle Menschen frei leben können», sagte Selen­skyj. «Daher ist viel mehr Druck auf Russland erforderlich.»

Selen­skyj kriti­siert verwei­ger­te Hilfe

Trotz der klare Lage gebe es Länder, in denen Sanktio­nen gegen Moskau zurück­ge­hal­ten würden oder Hilfe für die Ukrai­ne blockiert werde, kriti­sier­te Selen­skyj. Konkret nannte er jedoch kein Land beim Namen. Dabei sei inzwi­schen bekannt, dass Russlands Blocka­de ukrai­ni­scher Häfen sowie der Krieg insge­samt eine große Nahrungs­mit­tel­kri­se provo­zier­ten. «Und russi­sche Beamte drohen der Welt auch offen, dass es in Dutzen­den von Ländern Hungers­nö­te geben wird.»

«Tatsäch­lich kann heute niemand vorher­sa­gen, wie lange dieser Krieg dauern wird», sagte Selen­skyj. «Aber wir tun alles, um unser Land schnell zu befrei­en. Dazu brauche die Ukrai­ne Hilfe ihrer Partner, «aus europäi­schen Ländern, aus den Ländern der ganzen freien Welt».

Der Chef des ukrai­ni­schen Militär­ge­heim­diens­tes dagegen sagte in einer überaus optimis­tisch klingen­den Progno­se ein Ende des Kriegs mit einer russi­schen Nieder­la­ge bis Jahres­en­de voraus. Spätes­tens Mitte August komme es zu einer Wende an den Fronten, sagte General­ma­jor Kyrylo Budanow dem briti­schen Sender Sky News. «Der Wende­punkt kommt in der zweiten Augusthälfte.»

Bis zum Jahres­en­de werde die Ukrai­ne wieder die Kontrol­le über alle ihre Gebie­te zurück­er­lan­gen, auch über die Halbin­sel Krim. Budanow erwar­te­te zudem große Änderun­gen im Kreml. Seiner Ansicht nach sei ein Putsch gegen den russi­schen Präsi­den­ten Wladi­mir Putin bereits im Gang. Bewei­se für seine Behaup­tun­gen legte er nicht vor.

Kiews Präsi­den­ten­be­ra­ter: Russlands Armee und Wirtschaft wackeln

Russlands Armee und Wirtschaft stehen nach Meinung des ukrai­ni­schen Präsi­den­ten­be­ra­ters Olexij Aresto­wytsch auf töner­nen Füßen. Das Bild des russi­schen Präsi­den­ten Wladi­mir Putin von der «unbesieg­ba­ren zweit­größ­ten Armee der Welt» habe sich bereits «als Fake» entpuppt, sagte Aresto­wytsch nach Angaben der Agentur Unian.

Die Reali­tät der vergan­ge­nen Wochen habe ein reales Bild von der Kampf­fä­hig­keit der russi­schen Armee gezeigt: «Sie hat gedroht, die Nato zu zerle­gen, ist aber schon an zwei Dörfern in der Region Sumy (in der Nordost­ukrai­ne) gescheitert.»

Der Berater Selen­sky­js sagte zugleich den aus seiner Sicht bevor­ste­hen­den Zusam­men­bruch der russi­schen Wirtschaft im Sommer voraus. «Jeder Versuch zu Verhand­lun­gen mit dem Westen wird schei­tern», sagte Aresto­wytsch. Das werde sich spätes­tens im Juli oder August bei einer mögli­chen Mobil­ma­chung bemerk­bar machen. Er sah es als fraglich an, dass die russi­sche Wirtschaft diesem Druck stand­hal­ten könne. «Es kann keine gesun­de Wirtschaft in einem Land geben, in dem alles andere verrot­tet ist.»

Kiew sieht «dritte Phase» des Kriegs

Die ukrai­ni­sche Führung sieht den Beginn der «dritten Phase» des russi­schen Angriffs­kriegs und eines damit verbun­de­nen langwie­ri­gen Kampfes. «Phase eins» sei der Versuch gewesen, die Ukrai­ne «in wenigen Tagen» zu überrol­len, sagte Viktor Andru­syw, Berater im ukrai­ni­schen Innen­mi­nis­te­ri­um, im Fernse­hen. In der zweiten Phase sollten die ukrai­ni­schen Streit­kräf­te in mehre­ren Kesseln einge­kreist und zerschla­gen werden. «Und auch das haben sie nicht geschafft.»

In der neuen «dritten Phase» berei­te­ten die russi­schen Militärs die Vertei­di­gung der bisher erreich­ten Gelän­de­ge­win­ne vor. «Das zeigt, dass sie einen langen Krieg daraus machen wollen», sagte Andru­syw. Offen­bar denke die russi­sche Regie­rung, dass sie so den Westen an den Verhand­lungs­tisch und damit die Ukrai­ne zum Einlen­ken zwingen könne.

Verhand­lun­gen um Azovs­tal-Vertei­di­ger schwierig

Die Verhand­lun­gen um einen mögli­chen freien Abzug oder Teilab­zug der im Werk Azovs­tal in Mariu­pol einge­kes­sel­ten ukrai­ni­schen Solda­ten gestal­ten sich nach Darstel­lung Kiews «äußerst schwie­rig». Das sagte die für die Gesprä­che zustän­di­ge ukrai­ni­sche Vize-Regie­rungs­chefin Iryna Werescht­schuk, wie die Agentur Unian berichtete.

«Ich teile die Angst und Sorge der Menschen, die den Vertei­di­gern der Festung naheste­hen», sagte sie. Doch es herrsche Krieg. «Und im Krieg gesche­hen keine Wunder, es gibt nur bitte­re Reali­tä­ten.» Daher helfe in diesem Fall nur ein «nüchter­nes und pragma­ti­sches Herangehen».

Werescht­schuk bemüht sich seit Tagen mit Hilfe der UN und des Inter­na­tio­na­len Komitees vom Roten Kreuz, mit der russi­schen Seite über einen mögli­chen Ausweg für die im Stahl­werk der Hafen­stadt Mariu­pol verschanz­ten ukrai­ni­schen Truppen zu sprechen. «Aber die Verhand­lun­gen mit dem Feind sind äußerst schwie­rig», sagte sie. «Mögli­cher­wei­se wird der Ausgang nicht alle zufriedenstellen.»

In die Verhand­lun­gen um die Vertei­di­ger von Azovs­tal hat sich auch die Türkei einge­schal­tet. Das russi­sche Militär lehnt bisher jedes Zugeständ­nis ab, fordert die Kapitu­la­ti­on der verschanz­ten Ukrai­ner. Nach ungenau­en Schät­zun­gen halten sich in dem weitläu­fi­gen Werk noch rund 1000 ukrai­ni­sche Solda­ten auf, viele von ihnen verwun­det. Ein Großteil von ihnen gehört dem Regiment «Asow» an, das von Russen als natio­na­lis­tisch und rechts­extre­mis­tisch einge­stuft wird.

In einer Video­kon­fe­renz mit Kiew berich­te­te der stell­ver­tre­ten­de Komman­deur des Asow-Regiments, dass seine Einheit bisher rund 6000 russi­sche Solda­ten «vernich­tet» habe. «Dazu noch 78 Panzer und etwa 100 gepan­zer­te Fahrzeu­ge», sagte Swjato­s­law Palamar.» Die Angaben ließen sich nicht unabhän­gig überprüfen.

Ein weite­rer Angehö­ri­ger des Regiments, David Chimik, berich­te­te von schwe­re Kämpfen um das Stahl­werk. Dennoch gab er sich optimis­tisch. «Wir denken nicht daran, zu Märty­rern zu werden, wir kämpfen um unser Leben und warten auf Unter­stüt­zung», wurde Chimik von der «Ukrajins­ka Prawda» zitiert.

Odessas Bürger­meis­ter würdigt Azovs­tal-Kämpfer als Helden

Für den Bürger­meis­ter von Odessa sind die Azovs­tal-Kämpfer wahre Helden. «Mariu­pol rettet meiner Ansicht nach nicht nur Odessa, sondern die gesam­te Ukrai­ne», sagte Henna­dij Trucha­now nach Angaben der Agentur Unian. «Denn diese Selbst­lo­sig­keit, die unsere Militärs in Mariu­pol zeigen, das ist ein wahres Beispiel von Heldentum.»

Was bringt der Tag?

Wenige Stunden nach dem Ende der G7-Beratun­gen an der Ostsee beginnt in Berlin ein Treffen der Nato-Außen­mi­nis­ter. Im Mittel­punkt dürfte dabei erneut der russi­sche Krieg in der Ukrai­ne sowie die Frage einer raschen Nato-Mitglied­schaft von Finnland und Schwe­den stehen.

In Finnland will am Samstag die sozial­de­mo­kra­ti­sche Regie­rungs­par­tei verkün­den, wie sie zu einem mögli­chen Nato-Beitritt steht. Nach der Positio­nie­rung von Minis­ter­prä­si­den­tin Sanna Marin und Präsi­dent Sauli Niinistö für eine Nato-Mitglied­schaft dürften die Sozial­de­mo­kra­ten vermut­lich ebenfalls für einen Beitritt sein. Dann gäbe es im Parla­ment eine deutli­che Mehrheit für den Weg in die Nato.