KIEW/MOSKAU (dpa) — Die Einnah­me des Stahl­werks in Mariu­pol feiert Russland als einen großen Teilsieg in seinem Angriffs­krieg. Präsi­dent Selen­skyj fordert derweil einen Entschä­di­gungs­fonds. Die Entwick­lun­gen im Überblick.

Nach Wochen hefti­ger Kämpfe hat Russlands Armee eigenen Angaben zufol­ge das Stahl­werk Azovs­tal in der ukrai­ni­schen Hafen­stadt Mariu­pol komplett unter ihre Kontrol­le gebracht.

Alle feind­li­chen Kämpfer hätten sich ergeben, teilte das Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um in der Nacht zum Samstag in Moskau mit. Die weitläu­fi­ge Indus­trie­an­la­ge am Asowschen Meer war der letzte Ort in der strate­gisch wichti­gen Hafen­stadt im Südos­ten der Ukrai­ne, der noch nicht vollkom­men unter russi­scher Kontrol­le gestan­den hatte.

Selen­skyj macht Westen mitverantwortlich

Die ukrai­ni­sche Seite äußer­te sich zunächst nicht zur angeb­li­chen Einnah­me des Werks. Nach Angaben aus Moskau kamen seit dem 16. Mai insge­samt 2439 ukrai­ni­sche Solda­ten, die sich in den Bunker­an­la­gen aus Sowjet­zei­ten verschanzt hatten, in russi­sche Gefan­gen­schaft. Am Freitag sei die letzte Gruppe von 531 Kämpfern gefan­gen genom­men worden, hieß es. Das Stahl­werk war seit dem 21. April von russi­schen Truppen belagert worden.

Der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj machte — in einem noch vor der russi­schen Verkün­dung der Einnah­me aufge­nom­me­nen Fernseh­in­ter­view — den Westen für die Entwick­lung mitver­ant­wort­lich. Er habe die westli­chen Staats- und Regie­rungs­chefs wieder­holt aufge­for­dert, sein Land mit «geeig­ne­ten Waffen» zu versor­gen, «damit wir Mariu­pol errei­chen können, um diese Menschen zu befreien».

Der frühe­re Nato-General­se­kre­tär Anders Fogh Rasmus­sen kriti­sier­te den zurück­hal­ten­den Kurs der Bundes­re­gie­rung in diesem Punkt. Deutsch­land sei «zu zöger­lich bei der Liefe­rung schwe­rer Waffen und bei der Verhän­gung von Sanktio­nen», sagte der Däne dem «Handels­blatt». «Natür­lich ist Deutsch­land in hohem Maße von russi­schen Gasim­por­ten abhän­gig, doch ich denke, eine klare Haltung der Bundes­re­gie­rung würde die gesam­te Dynamik in der Ukrai­ne verän­dern. Wir brauchen deutsche Führung.» Rasmus­sen forder­te einen sofor­ti­gen Stopp aller Öl- und Gasim­por­te aus Russland nach Europa.

Ukrai­ne befürch­tet weite­ren russi­schen Vormarsch

Die Ukrai­ne befürch­tet derweil einen weite­ren Vormarsch russi­scher Truppen. Der ukrai­ni­sche Militär­gou­ver­neur des Gebie­tes Luhansk, Serhij Hajdaj, melde­te am Samstag massi­ve Gefech­te im Donbass. So steht etwa die ostukrai­ni­sche Stadt Sjewjer­odo­nezk seit Tagen unter Beschuss, es gibt Tote und Verletz­te. «Die Russen löschen Sjewjer­odo­nezk wie Mariu­pol aus. In den Voror­ten der Stadt laufen Kämpfe», teilte Hajdaj im Nachrich­ten­ka­nal Telegram mit.

Der Gouver­neur beklag­te Bombar­de­ments aus der Luft in der Region, Russland wolle das Gebiet in Schutt und Asche legen. Zugleich wies er Aussa­gen von Russlands Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Sergej Schoi­gu, kurz vor der komplet­ten Einnah­me der Region Luhansk zu stehen, als «Unsinn» zurück. Schoi­gu habe keinen Überblick mehr über die Lage seiner eigenen Streitkräfte.

Fonds für Entschä­di­gung gefordert

Wegen der massi­ven Zerstö­rung in seinem Land brach­te Selen­skyj in seiner nächt­li­chen Video­an­spra­che einen Fonds ins Gespräch für Entschä­di­gungs­zah­lun­gen an Länder, denen Russland mit Angrif­fen Schaden zugefügt habe. Das könne in einem «multi­la­te­ra­len Abkom­men» geregelt werden. Selen­skyj schlug vor, russi­sches Kapital und Eigen­tum im Ausland einzu­frie­ren oder zu beschlag­nah­men und diesem neuen Fonds zuzufüh­ren. «Das wäre gerecht», meinte er.

Die Kriegs­schä­den in der Ukrai­ne summie­ren sich ukrai­ni­schen Schät­zun­gen zufol­ge schon jetzt auf Hunder­te Milli­ar­den Euro. Russland hatte Ende Febru­ar seinen Angriff auf das Nachbar­land begonnen.

Ukrai­ne-Kontakt­grup­pe will beraten

Die neue inter­na­tio­na­le Ukrai­ne-Kontakt­grup­pe will sich am Montag erneut zusam­men­schal­ten. Das US-Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um kündig­te an, das Treffen werde diesmal per Video abgehal­ten. Mit dabei seien Vertre­ter von mehr als 40 Ländern.

US-Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Lloyd Austin hatte Ende April Partner aus rund 40 Staaten zu einem Treffen auf dem US-Luftwaf­fen­stütz­punkt im rhein­land-pfälzi­schen Ramstein einge­la­den, um über Hilfe für die Ukrai­ne zu beraten. Dort hatte er künfti­ge Treffen der Kontakt­grup­pe im Monats­rhyth­mus in Aussicht gestellt.

Russi­sche Angrif­fe gehen weiter

Selen­skyj machte Russland auch für einen Raketen­an­griff auf ein Kultur­zen­trum im Osten des Landes mit acht Verletz­ten verant­wort­lich. Bei dem Beschuss in der Stadt Losowa im Gebiet Charkiw sei auch ein elf Jahre altes Kind verletzt worden, schrieb das Staats­ober­haupt im Nachrich­ten­ka­nal Telegram. «Die Besat­zer haben Kultur, Bildung und Mensch­lich­keit als ihre Feinde identi­fi­ziert.» Russland wieder­um warf der Ukrai­ne vor, zivile Objek­te für militä­ri­sche Zwecke zu missbrauchen.

Das bringt der Tag

Russland will die Gaslie­fe­run­gen nach Finnland laut Angaben des finni­schen Energie­kon­zerns Gasum am frühen Samstag­mor­gen einstel­len. Darüber habe Gazprom Export am Freitag infor­miert, teilte der finni­sche Versor­ger Gasum in Espoo mit. Der russi­sche Staats­kon­zern bestä­tig­te das am Abend. Grund seien nicht erfolg­te Zahlun­gen für das im April gelie­fer­te Gas.

Russland hatte verlangt, dass die Rechnun­gen nur noch in Rubel und nicht mehr in Euro oder Dollar bezahlt werden — und zuvor schon Polen und Bulga­ri­en den Gashahn zugedreht, weil sie wie Finnland die vertrag­lich nicht verein­bar­te Rubel-Zahlung abgelehnt hatten.

Nach der Einnah­me des Stahl­werks in Mariu­pol bleibt abzuwar­ten, ob Russland Angaben zum Verbleib der festge­nom­me­nen ukrai­ni­schen Kämpfer machen wird. Das Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um in Moskau veröf­fent­lich­te ein Video von der Festnah­me der Männer. Der russi­sche Präsi­dent Wladi­mir Putin hatte zugesi­chert, dass sie am Leben bleiben und medizi­nisch versorgt würden, wenn sie sich ergeben. Die letzten Vertei­di­ger von Mariu­pol hatten am Freitag nach Wochen des Wider­stan­des ihre Kapitu­la­ti­on erklärt.