KIEW (dpa) — Selen­skyj fürch­tet eine Entvöl­ke­rung des Donbass. Die Stadt Sjewjer­odo­nezk steht unter Druck. Einige Solda­ten weigern sich derweil für Russland in den Krieg zu ziehen. Die aktuel­len Entwicklungen.

Der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj befürch­tet angesichts der massi­ven russi­schen Angrif­fe im Osten einen weitge­hend entvöl­ker­ten Donbass. Mit ihrer überle­ge­nen Feuer­kraft setzten die angrei­fen­den russi­schen Truppen am Donners­tag die ukrai­ni­schen Vertei­di­ger um die Stadt Sjewjer­odo­nezk unter Druck.

«Die laufen­de Offen­si­ve der Besat­zer im Donbass könnte die Region menschen­leer machen», sagte Selen­skyj in seiner abend­li­chen Video­an­spra­che in Kiew. Die Städte würden zerstört, die Menschen getötet oder verschleppt. Dies sei «eine offen­sicht­li­che Politik des Völker­mords». Freitag ist der 93. Kriegs­tag. Russland hatte das Nachbar­land Ukrai­ne am 24. Febru­ar angegriffen.

Brenz­li­ge Lage für Ukrai­ner im Osten

Die ukrai­ni­sche Armee steht im äußers­ten Osten ihrer Front stark unter Druck. Sjewjer­odo­nezk im Gebiet Luhansk wurde am Donners­tag mit Artil­le­rie und aus der Luft beschos­sen, wie Gouver­neur Serhij Hajdaj mitteil­te. Der ukrai­ni­sche General­stab teilte mit, der Angriff auf die Stadt und ihren Vorort Boriw­s­ke sei aber nicht erfolg­reich. Die Militär­an­ga­ben waren nicht unabhän­gig überprüf­bar. In einem anderen Dorf in der Nähe, in Ustyniw­ka, habe die russi­sche Seite einen Teilerfolg errun­gen, hieß es.

Die Großstäd­te Sjewjer­odo­nezk und Lyssytschansk sind derzeit die äußers­ten ukrai­ni­schen Vorpos­ten im Osten. Kämpfe gibt es aber auch schon im Rückraum dieser Städte, damit drohen ukrai­ni­sche Truppen abgerie­gelt zu werden. Auf der Nordsei­te dieses mögli­chen Kessels sei die Stadt Lyman verlo­ren worden, bestä­tig­te Präsi­den­ten­be­ra­ter Olexyj Aresto­wytsch im ukrai­ni­schen Fernse­hen. Auf der Südsei­te gab es Kämpfe um die Orte Komyschu­wacha, Nirko­we und Berestowe.

Bei Raketen­an­grif­fen auf die ostukrai­ni­sche Stadt Charkiw seien neun Menschen getötet worden, darun­ter ein fünf Monate altes Kind mit seinem Vater, sagte Selen­skyj. 19 Menschen seien verletzt worden.

Selen­skyj hält Europä­er für zögerlich

In seinem Video fragte der ukrai­ni­sche Präsi­dent, warum die EU so lange brauche, um ein sechs­tes Sankti­ons­pa­ket zu verab­schie­den. Noch immer verdie­ne Russland Milli­ar­den mit Energie­ex­por­ten, noch seien nicht alle russi­schen Banken sanktio­niert. Wie lange müsse die Ukrai­ne darum kämpfen, die notwen­di­gen Waffen zu bekom­men, fragte er. «Die Ukrai­ne wird immer ein unabhän­gi­ger Staat sein und nicht zerbre­chen.» Die Frage sei, welchen Preis die Ukrai­ne für ihre Freiheit zahlen müsse.

Derweil zieht die US-Regie­rung einem Medien­be­richt zufol­ge in Erwägung, fortschritt­li­che Mehrfach­ra­ke­ten­wer­fer mit hoher Reich­wei­te in die Ukrai­ne zu schicken. Die in den USA herge­stell­ten Artil­le­rie­sys­te­me MLRS und HIMARS könnten Raketen über Hunder­te Kilome­ter abfeu­ern, berich­te­te der Sender CNN unter Berufung auf mehre­re Beamte. Ein neues militä­ri­sches Hilfs­pa­ket könnte bereits in der kommen­den Woche angekün­digt werden. Die Ukrai­ne habe um diese Art von Waffen gebeten, hieß es weiter. Aller­dings sei die US-Regie­rung zöger­lich gewesen, da befürch­tet werde, dass die Ukrai­ne die Raketen­sys­te­me für Angrif­fe auf russi­sches Gebiet nutzen könnte. Es stelle sich die Frage, ob dies eine russi­sche Vergel­tungs­maß­nah­me zur Folge haben könnte, so CNN.

Der russi­sche Außen­mi­nis­ter Sergej Lawrow hielt unter­des­sen Selen­skyj fehlen­de Verhand­lungs­be­reit­schaft vor. Der Westen unter­stüt­ze den ukrai­ni­schen Staats­chef auch noch in dieser Haltung, sagte Lawrow dem arabisch-sprachi­gen Ableger des staat­li­chen Fernseh­ka­nals RT. Selen­skyj hatte zuvor gesagt, er werde nur mit Kreml­chef Wladi­mir Putin direkt verhan­deln — und das erst, wenn Russland sich auf die Grenzen vor dem 24. Febru­ar zurück­zie­he. «Dass das nicht ernst­haft ist, muss man nieman­dem erklä­ren und bewei­sen», sagte Lawrow.

In den ersten Wochen nach dem russi­schen Überfall hatten Moskau und Kiew noch verhan­delt. Die Gesprä­che kamen aber zum Erlie­gen, als die Gräuel­ta­ten russi­scher Solda­ten nach dem Rückzug aus Kiewer Voror­ten wie Butscha ans Licht kamen.

Russi­sche Natio­nal­gar­dis­ten wollen nicht in den Krieg

Im russi­schen Nordkau­ka­sus haben 115 Natio­nal­gar­dis­ten einen Einsatz im Krieg gegen die Ukrai­ne verwei­gert. Dies trug ihnen eine Kündi­gung ein, die von einem Militär­ge­richt in Naltschik für recht­mä­ßig erklärt wurde. Den Angaben nach hatten die Natio­nal­gar­dis­ten aus der Teilre­pu­blik Kabar­di­no-Balka­ri­en sich gewei­gert, Befeh­len zu gehor­chen, und waren in ihre Kaser­nen zurückgekehrt.

USA sehen Schuld an Getrei­de­blo­cka­de bei Russland

Die US-Regie­rung wies Russlands Forde­rung nach einer Aufhe­bung der Sanktio­nen im Gegen­zug zu einer Freiga­be ukrai­ni­scher Getrei­de­vor­rä­te zurück. «Es ist Russland, das aktiv die Ausfuhr von Lebens­mit­teln aus ukrai­ni­schen Häfen blockiert und den Hunger in der Welt vergrö­ßert», sagte die Spreche­rin des Weißen Hauses, Karine Jean-Pierre, in Washing­ton. In Silos in der Ukrai­ne und auf Schif­fen lagere viel Getrei­de, das wegen der russi­schen Seeblo­cka­de nicht verschifft werden könne. Die Sanktio­nen würden weder die Ausfuhr noch die notwen­di­gen Geldtrans­ak­tio­nen verhindern.

Nato-Manöver mit künfti­gen Mitglie­dern an der Ostsee im Sommer

Vor dem Hinter­grund des russi­schen Angriffs­kriegs gegen die Ukrai­ne findet im Juni unter Führung der USA ein großes multi­na­tio­na­les Manöver im Ostsee­raum statt. An der jährli­chen mariti­men Übung «Baltops 22» werden neben 14 Nato-Staaten wie Deutsch­land auch die Partner­län­der Schwe­den und Finnland teilneh­men. Das sagte der Sprecher des US-Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums, John Kirby. Dabei sein sollen 45 Marine­ein­hei­ten, 75 Flugzeu­ge und rund 7000 Soldaten.

Schwe­den ist dieses Jahr Gastge­ber des Manövers, das vom 5. bis 17. Juni geplant ist. Wegen Russlands Einmarsch in die Ukrai­ne haben Schwe­den und Finnland die Mitglied­schaft in der Nato beantragt. Das Manöver findet bereits seit 1972 regel­mä­ßig im Ostsee­raum statt.

Das bringt der Tag

Die Auswir­kun­gen des Ukrai­ne-Krieges auf die weltwei­te Energie­wirt­schaft ist ein Thema der Minis­ter für Klima, Energie und Umwelt der Siebe­ner­grup­pe wichti­ger Indus­trie­na­tio­nen (G7). Sie beenden am Freitag ihr Treffen in Berlin. Außer­dem soll es um den Ausstieg aus der Kohle­ver­stro­mung gehen.