KIEW/MOSKAU (dpa) — Mit massi­vem Beschuss zermürbt die russi­sche Armee die ukrai­ni­schen Linien im Osten. Kiew berich­tet von massi­ven Schäden. Ein Überblick über die Entwick­lung in der Nacht und ein Ausblick auf den Tag.

Der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj hat Russland einen Vernich­tungs­krieg vorge­wor­fen. Nach einem Front­be­such sprach er von schwe­ren Schäden in der Stadt Charkiw und berich­te­te von Zerstö­run­gen im Donbass.

Selen­skyj hatte angekün­digt, darüber auch per Zuschal­tung bei einem heute begin­nen­den EU-Gipfel in Brüssel zu sprechen. An diesem Montag ist der 96. Kriegs­tag. Russland hatte das Nachbar­land Ukrai­ne am 24. Febru­ar angegriffen.

Selen­skyj: Russland hat Zukunft verloren

Nach einem unange­kün­dig­ten Besuch in der umkämpf­ten Region Charkiw im Osten des Landes zeigte sich Selen­skyj erschüt­tert. «Schwar­ze, ausge­brann­te, halb zerstör­te Wohnhäu­ser blicken mit ihren Fenstern nach Osten und Norden — dorthin, von wo die russi­sche Artil­le­rie schoss», sagte er in einer Video­bot­schaft. Russland habe nicht nur die Schlacht um Charkiw, sondern auch um Kiew und den Norden der Ukrai­ne verlo­ren. «Es hat seine eigene Zukunft und jede kultu­rel­le Bindung zur freien Welt verlo­ren. Sie sind alle verbrannt.»

Die Reise nach Charkiw war der erste bekann­te Besuch Selen­sky­js im Front­ge­biet seit Beginn des russi­schen Angriffs­krie­ges. Bei dem Besuch habe er den örtli­chen Chef des Inlands­ge­heim­diens­tes SBU entlas­sen, teilte Selen­skyj mit: «Weil er seit den ersten Tagen des Krieges nicht für den Schutz der Stadt gearbei­tet hat, sondern nur an sich gedacht hat.» Der Fall sei der Justiz überge­ben worden.

Weitge­hen­de Zerstö­rung von Sjewjerodonezk

Selen­skyj warf Russland auch die weitge­hen­de Zerstö­rung der Großstadt Sjewjer­odo­nezk im Donbass vor. Die gesam­te Infra­struk­tur sei vernich­tet, sagte er in der Video­bot­schaft. «90 Prozent der Häuser sind beschä­digt. Mehr als zwei Drittel des Wohnbe­stands der Stadt sind komplett zerstört.»

Ständig werde die Stadt angegrif­fen. Moskau wolle seine Fahne auf dem Verwal­tungs­ge­bäu­de von Sjewjer­odo­nezk hissen, das am dorti­gen Boule­vard der Völker­freund­schaft stehe, sagte Selen­skyj. «Wie bitter dieser Name jetzt klingt.» Seit Monaten ist Sjewjer­odo­nezk Ziel von Angrif­fen. Die Stadt gilt als letzter Punkt, den das ukrai­ni­sche Militär in der Region Luhansk noch kontrolliert.

Ukrai­ni­sche Behör­den: Offen­si­ve im Süden des Landes

Das ukrai­ni­sche Militär setzte nach eigenen Angaben in der Nacht seine Offen­si­ve im Süden des Landes fort. «Die Lage im Süden ist dynamisch und gespannt», teilte das Oberkom­man­do des ukrai­ni­schen Wehrkrei­ses Süd in der Nacht zum Montag auf seiner Facebook-Seite mit. Russland ziehe Reser­ven zusam­men und versu­che, die Front­li­ni­en im Gebiet Cherson zu befes­ti­gen. «Gleich­zei­tig setzen unsere Einhei­ten ihre Offen­siv­ak­ti­vi­tä­ten fort, um den Feind zu binden und eine Umgrup­pie­rung der Reser­ven zu verhindern.»

Eigenen Angaben nach hat das ukrai­ni­sche Militär bei den Kämpfen 67 russi­sche Solda­ten getötet und 27 Militär­fahr­zeu­ge außer Gefecht gesetzt. Darun­ter auch sechs — aller­dings stark veral­te­te Panzer — vom Typ T‑62. Unabhän­gig lassen sich diese Angaben nicht überprüfen.

Lawrow: Donbass hat «bedin­gungs­lo­se Priorität»

Der russi­sche Außen­mi­nis­ter Sergej Lawrow bezeich­ne­te die Einnah­me des Donbass unter­des­sen als «bedin­gungs­lo­se Priori­tät». Es gehe darum, die ukrai­ni­sche Armee und Batail­lo­ne aus den von Moskau als unabhän­gi­ge Staaten anerkann­ten Gebie­ten Donezk und Luhansk zu drängen, sagte Lawrow dem russi­schen Außen­amt zufol­ge in einem Inter­view mit dem franzö­si­schen Sender TF1. Das Minis­te­ri­um veröf­fent­lich­te die Antwor­ten am Sonntag auf der Internetseite.

Lawrow sprach in dem Inter­view erneut von einer angeb­li­chen «Befrei­ung» des Donbass vom «Kiewer Regime». Er äußer­te sich auch auf eine Frage zur Gesund­heit Putins. Der Präsi­dent erschei­ne täglich in der Öffent­lich­keit, sagte der Außen­mi­nis­ter. «Sie können ihn auf den Bildschir­men beobach­ten, seine Auftrit­te lesen und hören. Ich glaube nicht, dass vernünf­ti­ge Leute in diesem Menschen Anzei­chen einer Krank­heit oder eines Unwohl­seins sehen können.»

Berich­te über weite­re Tote und Verletzte

Bei Angrif­fen auf ukrai­ni­sche Orte wurden den Behör­den zufol­ge mehre­re Zivilis­ten getötet oder verwun­det. Der Gouver­neur des Gebiets Donezk, Pawlo Kirilen­ko, machte Russland für drei Tote und vier Verletz­te in dem von Regie­rungs­trup­pen kontrol­lier­ten Teil der Region im Osten des Landes verant­wort­lich. In Mykola­jiw im Süden des Landes sprachen die Behör­den von mindes­tens einem Toten bei einem Angriff auf ein Wohnvier­tel. Russland bestrei­tet, zivile Ziele anzugreifen.

Die ukrai­ni­sche Armee habe 14 russi­sche Attacken im Donbass abgewehrt, teilte der General­stab in Kiew mit. Dabei seien mehr als 60 russi­sche Solda­ten getötet sowie Panzer und Artil­le­rie zerstört worden, hieß es. Die Angaben sind nicht unabhän­gig zu prüfen.

Gauck für Unter­stüt­zung der Ukrai­ne mit Waffen

Der ehema­li­ge Bundes­prä­si­dent Joachim Gauck ist nach eigener Aussa­ge der Meinung, dass Waffen­lie­fe­run­gen an die Ukrai­ne für deren Freiheits­kampf gegen die russi­schen Angrei­fer wichtig sind. «Ohne die Waffen der Alliier­ten im Weltkrieg hätte es ein Europa unter Nazi-Herrschaft gegeben», sagte Gauck im Inter­view der «Bild».

Die Ukrai­ne müsse sagen dürfen, was sie brauche, um Russland entge­gen­zu­tre­ten. Dennoch müsse die Politik auch weiter mit Russlands Präsi­dent Putin im Gespräch bleiben. «Verant­wort­li­che Politik muss auch mit Dikta­to­ren reden», so Gauck. «Wir dürfen niemals auf Diplo­ma­tie verzichten.»

ESC-Sieger verstei­gern Trophäe

Die ukrai­ni­schen Sieger des Eurovi­si­on Song Contest verstei­ger­ten nach eigenen Angaben ihre Trophäe des Wettbe­werbs zuguns­ten der Armee ihres Heimat­lan­des. «Einen beson­de­ren Dank an das Team White­bit, das die Trophäe für 900.000 US-Dollar gekauft hat und jetzt recht­mä­ßi­ger Besit­zer unserer Trophäe ist», teilte die Band Kalush Orches­tra am Sonntag­abend mit.

White­bit ist ein ukrai­ni­sches Unter­neh­men, das eine Krypto­bör­se betreibt, also eine Online-Handels­platt­form, auf der sich Krypto­wäh­run­gen kaufen, verkau­fen und tauschen lassen. Seit 2008 bekom­men die Sieger eine gläser­ne Mikro­fon-Trophäe überreicht. Kalush Orches­tra hatte Mitte Mai mit dem Lied «Stefa­nia» den 66. ESC in Turin gewonnen.

Das bringt der Tag

Der andau­ern­de Streit über die Pläne für ein europäi­sches Öl-Embar­go gegen Russland droht am Montag den begin­nen­den EU-Gipfel in Brüssel zu überschat­ten. In Berlin könnte weiter über das geplan­te Sonder­ver­mö­gen der Bundes­wehr debat­tiert werden. Union und Koali­ti­on hatten sich am Sonntag­abend auf die gesetz­li­chen Grund­la­gen für das geplan­te Sonder­ver­mö­gen in Höhe von 100 Milli­ar­den Euro geeinigt.