KIEW (dpa) — Ukrai­nes Präsi­dent Selen­skyj will mit einem «Buch der Folte­rer» Kriegs­ver­bre­chen dokumen­tie­ren. In besetz­ten Gebie­ten planen die neuen Macht­ha­ber offen­bar den Beitritt zu Russland. Entwick­lun­gen im Überblick.

Die erbit­ter­ten Kämpfe in der Ostukrai­ne gehen weiter. Trotz ihrer Überle­gen­heit haben die russi­schen Truppen nach Darstel­lung des ukrai­ni­schen Präsi­den­ten Wolodym­yr Selen­skyj bisher keinen Durch­bruch erzielt.

«Die Situa­ti­on an der Front hat in den letzten 24 Stunden keine wesent­li­chen Änderun­gen erfah­ren», sagte Selen­skyj in seiner abend­li­chen Video­bot­schaft. «Die äußerst helden­haf­te Vertei­di­gung des Donbass wird fortge­setzt.» Der Mittwoch ist für die Ukrai­ne der 105. Tag des Krieges.

Schwe­re Kämpfe um Sjewjerodonezk

Die schwe­ren Kämpfe um die strate­gisch wichti­ge Stadt Sjewjer­odo­nezk halten unver­min­dert an. Die ukrai­ni­sche Seite berich­te­te am Mittwoch, ihre Stellun­gen würden von russi­schen Truppen rund um die Uhr beschos­sen. Der Gouver­neur der Region Luhansk, Serhij Hajdaj, sagte im Fernse­hen: «Mörser, Artil­le­rie, Panzer, Luftan­grif­fe, alles fliegt gerade dorthin.» Zugleich versi­cher­te er: «Niemand wird etwas aufge­ben — selbst wenn unsere Solda­ten gezwun­gen sind, sich auf besser befes­tig­te Positio­nen zurückzuziehen.»

Wegen der schwe­ren Angrif­fe werde die Bahntras­se zwischen Bachmut und Lyssytschansk von der Ukrai­ne nicht mehr benutzt, sagte der Gouver­neur. Der Nachschub für die Nachbar­städ­te Lyssytschansk und Sjewjer­odo­nezk werde nun auf anderen Wegen dorthin gebracht. Dem ukrai­ni­schen General­stab zufol­ge gab es verstärk­te Luftan­grif­fe in Richtung Bachmut im Gebiet Donezk und um die ukrai­ni­sche Gruppie­rung bei Solote im Gebiet Luhansk. Zum Einsatz kamen demnach auch russi­sche Kampf­hub­schrau­ber des Typs Ka-52.

Wo wird noch gekämpft?

Selen­skyj nannte auch die Städte Lyssytschansk und Popas­na als Schwer­punk­te. «Es ist zu spüren, dass die Besat­zer nicht geglaubt haben, dass der Wider­stand so stark sein wird», sagte der Präsi­dent. Ähnlich äußer­te sich der ukrai­ni­sche Präsi­den­ten­be­ra­ter Olexan­der Aresto­wytsch. Die ukrai­ni­sche Artil­le­rie habe gute Arbeit geleis­tet, sagte er.

Zugleich räumte Aresto­wytsch auch Proble­me ein. «Auf eine Gegen­of­fen­si­ve können wir lange warten», sagte er. Einige Kämpfer würden dem Druck nicht stand­hal­ten. Zudem sei nicht klar, wann und in welchem Umfang neue Waffen­lie­fe­run­gen eintreffen.

Moskau meldet hohe Verlus­te für ukrai­ni­sches Militär

Nach russi­schen Angaben verzeich­nen die ukrai­ni­schen Streit­kräf­te hohe Verlus­te bei den Kämpfen um die Region Donbass. Allein bei Gefech­ten um die Stadt Swjato­hirsk habe die Ukrai­ne inner­halb von drei Tagen mehr als 300 Kämpfer verlo­ren, sagte der Sprecher des Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums, Igor Konaschen­kow, in Moskau. Zudem seien 15 Kampf­fahr­zeu­ge und 36 Waffen­sys­te­me zerstört worden. Die Angaben lassen sich nicht unabhän­gig überprüfen.

Der General­leut­nant berich­te­te auch von russi­schen Raketen­an­grif­fen auf eine Panzer­fa­brik in Charkiw. Im Gebiet um die Millio­nen­stadt seien zudem mehre­re Gefechts­stän­de und Truppen­an­samm­lun­gen sowie Stellun­gen von Raketen­wer­fern mit Luft-Boden-Raketen beschos­sen worden. Darüber hinaus habe Russland seine takti­sche Luftwaf­fe, die Raketen­streit­kräf­te und Artil­le­rie in den Gebie­ten Donezk und Luhansk sowie im südukrai­ni­schen Saporischschja einge­setzt. Insge­samt habe die Ukrai­ne binnen 24 Stunden mehr als 480 Solda­ten verloren.

Tote bei Angrif­fen im Gebiet Charkiw

Im ostukrai­ni­schen Gebiet Charkiw wurden nach Angaben von Gouver­neur Oleh Synje­hub­ow mindes­tens drei Menschen durch russi­schen Beschuss getötet und sechs weite­re verletzt. Abends sei eine weite­re Person bei Angrif­fen getötet worden, hieß es.

In der Stadt Basch­tan­ka im südukrai­ni­schen Gebiet Mykola­jiw wurden nach Angaben der ukrai­ni­schen General­staats­an­walt­schaft bei russi­schen Raketen­an­grif­fen zwei Menschen getötet und drei verletzt. In der Gebiets­haupt­stadt Mykola­jiw soll es hefti­ge Detona­tio­nen gegeben haben. Auch die prorus­si­schen Separa­tis­ten melde­ten Opfer. Bei ukrai­ni­schem Beschuss sei im Ort Perwo­ma­jsk nahe der Front­li­nie ein Mann getötet worden.

Infor­ma­ti­ons­sys­tem zu Kriegsverbrechen

In seiner Video­bot­schaft am Diens­tag­abend kündig­te Selen­skyj ein neues Infor­ma­ti­ons­sys­tem zu Kriegs­ver­bre­chen an. In einem «Buch der Folte­rer» sollen bestä­tig­te Infor­ma­tio­nen über Kriegs­ver­bre­cher und Krimi­nel­le der russi­schen Armee gesam­melt werden.

«Ich habe wieder­holt betont, dass sie alle zur Rechen­schaft gezogen werden. Und wir gehen das Schritt für Schritt an», sagte der Präsi­dent. Nicht nur direk­te Täter wie etwa Solda­ten sollen zur Verant­wor­tung gezogen werden, sondern auch deren Befehls­ha­ber, die die Taten ermög­licht hätten — «in Butscha, in Mariu­pol, in all unseren Städten».

Russi­sche Besat­zer planen Referenden

In den von russi­schen Truppen besetz­ten Gebie­ten planen die neuen Macht­ha­ber offen­bar den Beitritt zu Russland. Die Vorbe­rei­tun­gen für ein Referen­dum hätten begon­nen, sagte die prorus­si­sche Statt­hal­te­rin in der Stadt Melito­pol, Halyna Danyltschenko.

Nach Angaben eines russi­schen Abgeord­ne­ten war der Vizechef der russi­schen Präsi­di­al­ver­wal­tung, Sergej Kirijen­ko, zu Gesprä­chen sowohl in Melito­pol, der zweit­größ­ten Stadt des Gebiets Saporischschja, als auch in Cherson, der Haupt­stadt des angren­zen­den gleich­na­mi­gen Gebiets. Nach ukrai­ni­schen Infor­ma­tio­nen soll in Cherson bis Herbst ein Referen­dum über eine Anglie­de­rung an Russland vorbe­rei­tet werden.

Altkanz­le­rin Merkel will mehr Abschreckung

Die frühe­re Bundes­kanz­le­rin Angela Merkel (CDU) plädiert für eine Verstär­kung der militä­ri­schen Abschre­ckung gegen­über Russland. «Das ist die einzi­ge Sprache, die Putin versteht», sagte Merkel in Berlin in einem vom TV-Sender Phoenix übertra­ge­nen Inter­view. Verant­wor­tung für ausge­blie­be­ne Inves­ti­tio­nen in die Bundes­wehr wies sie zurück — und indirekt dem frühe­ren Koali­ti­ons­part­ner SPD zu.

«Ich bin jetzt heilfroh, dass wir nun uns endlich auch entschei­den, nachdem die ganze Welt bewaff­ne­te Drohnen hat, dass wir auch welche kaufen. Und es ist auch nicht an mir geschei­tert, dass bestimm­te andere Dinge nicht statt­fin­den konnten», sagte Merkel. «Es war ein sehr zähes Ringen, überhaupt in die militä­ri­sche Abschre­ckung zu investieren.»

Norwe­gen liefert Panzerhaubitzen

Norwe­gen liefer­te der Ukrai­ne 22 Panzer­hau­bit­zen des Typs M109 sowie Muniti­on und Ersatz­tei­le. Die Entwick­lung des Krieges mache es erfor­der­lich, dem von Russland angegrif­fe­nen Land nun auch schwe­re­re Waffen zu schicken, sagte Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Bjørn Arild Gram in Oslo. Eine Panzer­hau­bit­ze ist ein schwe­res Artil­le­rie­sys­tem mit einer Kanone auf einem Ketten­fahr­zeug, ähnlich einem Panzer.

Aus Sicher­heits­grün­den sei die Liefe­rung nicht vorab angekün­digt worden, sagte der Minis­ter. Die Ausbil­dung der ukrai­ni­schen Solda­ten an den Waffen habe in Deutsch­land statt­ge­fun­den. Norwe­gen selbst ersetz­te die Waffen­sys­te­me nach diesen Angaben mit neuer Ausrüs­tung aus Südkorea.

Gefan­ge­ne ukrai­ni­sche Kämpfer nach Russland gebracht

Mehr als 1000 ukrai­ni­sche Kriegs­ge­fan­ge­ne aus dem erober­ten Stahl­werk Azovs­tal in Mariu­pol sind mittler­wei­le nach Russland gebracht worden. Die russi­schen Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den beschäf­tig­ten sich derzeit mit ihnen, melde­te die russi­sche Staats­agen­tur Tass in der Nacht zum Mittwoch unter Berufung auf Sicher­heits­krei­se. Unter ihnen könnten mehr als 100 auslän­di­sche «Söldner» sein. Insge­samt hatten sich mehr als 2400 ukrai­ni­sche Kämpfer in dem Werk ergeben.

Neues Geld für Kiew

Die Weltbank stellt der Ukrai­ne eine weite­re Finan­zie­rung in Höhe von 1,49 Milli­ar­den US-Dollar (1,4 Milli­ar­den Euro) zur Verfü­gung. Damit könne die Regie­rung angesichts des andau­ern­den Kriegs Löhne für Staats­be­diens­te­te zahlen, hieß es. Es blieb zunächst unklar, ob es sich bei den neuen Mitteln um Hilfs­gel­der oder einen Kredit handelte.

Russisch-ameri­ka­ni­sche Bezie­hun­gen kaum noch existent

Der bilate­ra­le Dialog zwischen Moskau und Washing­ton ist nach russi­schen Angaben fast zum Erlie­gen gekom­men. «Vertrau­en wurde unter­gra­ben, die Zusam­men­ar­beit zerfällt selbst in Feldern mit beidsei­ti­gem Inter­es­se, die Kommu­ni­ka­ti­on zwischen den Seiten ist gering und vornehm­lich reduziert auf eine Debat­te techni­scher Proble­me», sagte der russi­sche Botschaf­ter in den USA, Anato­li Antonow, dem russi­schen Staatsfernsehen.

Aller­dings würden die Vertei­di­gungs­mi­nis­ter und General­stabs­chefs noch «gelegent­li­che Telefon­ge­sprä­che» halten — diese seien äußerst wichtig, um eine direk­te militä­ri­sche Konfron­ta­ti­on zu verhindern.

Das bringt der Tag

Der russi­sche Außen­mi­nis­ter Sergej Lawrow will in Ankara seinen türki­schen Kolle­gen Mevlüt Cavuso­glu treffen. Dabei soll es auch um die Freiga­be ukrai­ni­scher Getrei­de­lie­fe­run­gen gehen. Die Ukrai­ne gehört zu den größten Weizen­ex­por­teu­ren weltweit. Russland blockiert aber im Zuge seines Angriffs­krie­ges ukrai­ni­sche Häfen. Exper­ten und Politi­ker warnen vor einer globa­len Nahrungsmittelkrise.

Unter italie­ni­schem Vorsitz findet zudem an diesem Mittwoch eine inter­na­tio­na­le Online-Konfe­renz zur Ernäh­rungs­si­cher­heit statt.

Der EU-Kommis­sar Janez Lenarčič ist zu Besuch in der Ukraine.