KIEW (dpa) — 130 Tage Krieg haben gravie­ren­de Spuren in der Ukrai­ne hinter­las­sen — Präsi­dent Selen­skyj fordert inter­na­tio­na­les Handeln. Im Osten des Landes wird die Lage immer ernster. Die Entwick­lung im Überblick:

Angesichts der massi­ven Zerstö­run­gen in der Ukrai­ne hat Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj nach mehr als vier Monaten Krieg inter­na­tio­na­le Hilfe beim Wieder­auf­bau seines Landes gefor­dert. Es seien «kolos­sa­le Inves­ti­tio­nen, Milli­ar­den, neue Techno­lo­gien, bewähr­te Verfah­ren, neue Insti­tu­tio­nen und natür­lich Refor­men» notwen­dig, beton­te er.

Im Osten des Landes spitzt sich die Lage derweil weiter zu. Prorus­si­sche Separa­tis­ten und russi­sche Politi­ker melde­ten bereits die Kontrol­le über die strate­gisch wichti­ge Stadt Lyssytschansk im Luhans­ker Gebiet — die Ukrai­ne wider­sprach. Der angegrif­fe­nen Ukrai­ne steht der 130. Kriegs­tag bevor.

Unter­des­sen drohte Alexan­der Lukaschen­ko — Macht­ha­ber von Belarus und enger Verbün­de­ter von Kreml­chef Wladi­mir Putin — dem Westen offen. «Vor weniger als einem Monat habe ich den Einhei­ten der Streit­kräf­te den Befehl gegeben, die (…) Entschei­dungs­zen­tren in Ihren Haupt­städ­ten ins Visier zu nehmen», sagte er — ließ aber offen, was genau er damit meinte.

Kiew: Russi­sche Truppen fassen in Lyssytschansk Fuß

Die russi­schen Truppen sind nach ukrai­ni­schen Angaben in Lyssytschansk einge­rückt. «Im Raum Donezk konzen­trie­ren sich die Okkupan­ten darauf, ihre Positio­nen in den Städten Lyssytschansk und Werch­n­jo­kam­jan­ka zu festi­gen», teilte der ukrai­ni­sche General­stab am Sonntag mit. Auch der ukrai­ni­sche Militär­gou­ver­neur von Luhansk, Serhij Hajdaj, bestä­tig­te auf seinem Telegram-Kanal, dass die Russen weiter vorge­rückt «und im Bezirk Lyssytschansk Fuß gefasst» hätten. Unklar ist noch, ob ukrai­ni­sche Einhei­ten in der Stadt sind.

Explo­sio­nen in Melito­pol im Süden

Die von russi­schen Truppen besetz­te Großstadt Melito­pol im Süden der Ukrai­ne wurde in der Nacht zum Sonntag von Dutzen­den Explo­sio­nen erschüt­tert. Mehr als 30 Geschos­se seien auf einen der vier russi­schen Militär­stütz­punk­te in der Stadt abgefeu­ert worden, teilte der ukrai­ni­sche Bürger­meis­ter von Melito­pol, Iwan Fjodo­row, am Sonntag in einer auf seinem Telegram-Kanal verbrei­te­ten Video­an­spra­che mit. Der Stütz­punkt sei damit außer Gefecht gesetzt worden. Unabhän­gig lassen sich diese Angaben nicht überprüfen.

Selen­skyj fordert Wieder­auf­bau-Hilfe für sein Land

«Es ist notwen­dig, nicht nur alles zu reparie­ren, was die Besat­zer zerstört haben, sondern auch eine neue Grund­la­ge für unser Leben zu schaf­fen — sicher, modern, komfor­ta­bel, barrie­re­frei» sagte Selen­skyj in einer Anspra­che in der Nacht zum Sonntag. Der ukrai­ni­sche Staats­chef verwies in diesem Zusam­men­hang auch auf ein Treffen von 40 poten­zi­el­len Geber­län­dern am kommen­den Montag im schwei­ze­ri­schen Lugano. Die ukrai­ni­sche Regie­rung will bei der Veran­stal­tung erstmals ihre Priori­tä­ten für den Wieder­auf­bau des kriegs­zer­stör­ten Landes vorstellen.

Selen­skyj erinner­te zudem daran, dass der Krieg noch lange nicht vorbei sei. «Seine Bruta­li­tät nimmt mancher­orts zu.» Er appel­lier­te an seine Lands­leu­te, sich freiwil­lig für Kriegs­op­fer zu engagieren.

Separa­tis­ten vermel­den Erfol­ge in Lyssytschansk

Prorus­si­sche Separa­tis­ten haben eigenen Angaben zufol­ge gemein­sam mit russi­schen Solda­ten das Gebäu­de der Stadt­ver­wal­tung im schwer umkämpf­ten ostukrai­ni­schen Lyssytschansk unter ihre Kontrol­le gebracht. Das sagte der Separa­tis­ten­ver­tre­ter Andrej Marotsch­ko der russi­schen Agentur Inter­fax am Samstag­abend. Ähnli­che Mittei­lun­gen über die strate­gisch wichti­ge Stadt im Gebiet Luhansk gab es auch von der russi­schen Nachrich­ten­agen­tur Ria Nowos­ti und vom Präsi­den­ten der russi­schen Teilre­pu­blik Tsche­tsche­ni­en, Ramsan Kadyrow. Die Ukrai­ne stell­te die Lage hinge­gen zuletzt anders dar.

Die ukrai­ni­sche Seite sprach am Samstag auch von hefti­gen Gefech­ten, bezeich­ne­te die Stadt aber weiter als umkämpft. Der Gouver­neur des Luhans­ker Gebiets, Serhij Hajdaj, teilte mit, die Russen versuch­ten, Lyssytschansk von verschie­de­nen Seiten aus zu stürmen. Später am Tag bekräf­tig­te der Sprecher der ukrai­ni­schen Natio­nal­gar­de, Ruslan Musyt­schuk: «In der Nähe von Lyssytschansk finden hefti­ge Kämpfe statt, aber glück­li­cher­wei­se ist die Stadt nicht umzin­gelt und steht unter der Kontrol­le ukrai­ni­scher Truppen.»

Lyssytschansk ist der letzte große Ort im Gebiet Luhansk, den die ukrai­ni­schen Truppen noch gehal­ten haben. Die Erobe­rung des Gebiets ist eines der erklär­ten Ziele Moskaus in dem Krieg. In der letzten Woche hatte das ukrai­ni­sche Militär die nur durch einen Fluss von Lyssytschansk getrenn­te Großstadt Sjewjer­odo­nezk aufge­ben müssen.

Lukaschen­ko droht dem Westen

Der russland­treue Macht­ha­ber der Ex-Sowjet­re­pu­blik Belarus, Alexan­der Lukaschen­ko, drohte dem Westen. Sollte es einen Angriff auf Belarus geben, werde sein Land sofort reagie­ren, sagte Lukaschen­ko der staat­li­chen Nachrich­ten­agen­tur Belta zufol­ge. «Vor weniger als einem Monat habe ich den Einhei­ten der Streit­kräf­te den Befehl gegeben, die — wie man jetzt sagen kann — Entschei­dungs­zen­tren in Ihren Haupt­städ­ten ins Visier zu nehmen», sagte der 67-Jähri­ge. Was genau er damit meinte, erläu­ter­te er nicht. Ungeach­tet der Tatsa­che, dass Russland selbst die Ukrai­ne angegrif­fen hat, stellen sich Moskau und das verbün­de­te Minsk immer wieder als Opfer vermeint­lich feind­li­cher Politik des Westens und der Nato im Spezi­el­len dar.

Gouver­neur: Tote nach Explo­sio­nen in russi­scher Grenzstadt

Bei Explo­sio­nen in der russi­schen Stadt Belgo­rod nahe der Grenze zur Ukrai­ne sind nach Angaben des Gouver­neurs der Region drei Menschen ums Leben gekom­men. Das schrieb Wjatsches­law Gladkow am Sonntag im Nachrich­ten­dienst Telegram. Vier weite­re Menschen seien verletzt worden, darun­ter ein zehnjäh­ri­ges Kind. Darüber hinaus seien 50 Häuser beschä­digt worden. Die Ursachen des Vorfalls würden unter­sucht, das Luftab­wehr­sys­tem werde voraus­sicht­lich aktiviert. Die Angaben waren von unabhän­gi­ger Seite nicht überprüfbar.

Russland beklagt wieder­holt auch Angrif­fe auf sein eigenes Staats­ge­biet. Neben Belgo­rod werfen auch andere russi­sche Regio­nen — darun­ter Kursk und Brjansk — der ukrai­ni­schen Seite immer wieder Beschuss vor. Kiew äußert sich zu den Vorwür­fen in der Regel nicht.

Das wird am Sonntag wichtig

In der Ukrai­ne dürften die Kämpfe um Lyssytschansk weiter im Mittel­punkt des Kriegs­ge­sche­hens stehen. In Deutsch­land will Bundes­kanz­ler Olaf Scholz im Rahmen des ARD-Sommer­in­ter­views live auf Fragen von Zuschau­ern antwor­ten. Auch hier dürften die Lage in der Ukrai­ne und Deutsch­lands Rolle thema­ti­siert werden.