BIBERACH — „Den Oskar haben wir immer vorge­schickt, wenn wir mit unseren Abgaben nicht fertig gewor­den sind. Der hat dann ein bisschen gejam­mert und dann haben wir mehr Zeit bekom­men,“ schmun­zeln die elf Herren, die sich im Audimax der Hochschu­le Biber­ach (HBC) versam­melt haben. 

Wie äußerst aufmerk­sa­me Studie­ren­de sitzen sie über drei Reihen verteilt, lassen den Blick schwei­fen durch den großen Vorle­sungs­saal und klopfen bei der Begrü­ßungs­re­de von Prof. Norbert Büchter, Prorek­tor für Studi­um und Lehre, voller Elan auf die Tische. Ob das vor 58 Jahren auch schon so ablief? Genau zu dieser Zeit, nämlich 1964, haben sie gemein­sam an der Hochschu­le Biber­ach ihr Studi­um begon­nen und sind somit der erste Abschluss­jahr­gang der Bildungs­ein­rich­tung. Einige der ehema­li­gen Kommiliton*innen haben in den fast sechs Jahrzehn­ten den Kontakt gehal­ten – andere haben sich in dieser Zeit nur zweimal gesehen.

Nun haben sie sich gemein­sam mit dem Studi­en­gang Bauin­ge­nieur­we­sen, der von Studi­en­de­kan Profes­sor Heiko Rahm, sowie seinem Kolle­gen, Prof. Daniel Rubin, vertre­ten wurde, zu einem Wieder­se­hen in Biber­ach verab­re­det. Auch der Oskar ist zum Treffen gekom­men und lacht bei der Erwäh­nung seiner „beson­de­ren Aufga­be.“ Oskar heißt nämlich eigent­lich Gerlin­de Oster­tag und war die einzi­ge Frau, die 1964 ihr Studi­um an der — damals noch „Staat­li­che Ingenieur­schu­le für Bauwe­sen“ – begon­nen hat. So wurde sie von ihren Kommi­li­to­nen kurzer­hand in Oskar umbenannt. „Das hat mir nichts ausge­macht“, sagt Oster­tag „aber so nennen dürfen mich nur die Jungs, die mit mir studiert haben.“ 

Insge­samt 25 Studie­ren­de haben im Sommer­se­mes­ter 1964 ihr Studi­um in Biber­ach angefan­gen. Statt acht verschie­de­ner Bache­lor­stu­di­en­gän­ge konnte man sich damals zwischen zwei Fachbe­rei­chen entschei­den: Hochbau und Ingenieur­bau, heute Archi­tek­tur und Bauin­ge­nieur­we­sen. Fünf Lehren­de gab es insge­samt und geschrie­ben wurde auf Blaupa­pier. Auch optisch war die Hochschu­le mit der von heute nicht zu verglei­chen. Weder das A‑Gebäude, in dem die Verwal­tung angesie­delt ist, noch das B‑Gebäude, in dem sich die Studi­en­gän­ge Archi­tek­tur und Bauin­ge­nieur­we­sen befin­den oder das C‑Gebäude gab es damals. Statt­des­sen fanden die Vorle­sun­gen in Pavil­lons gegen­über der ehema­li­gen Dollin­ger-Realschu­le statt. Sechs Seminar­räu­me, ein Modell­werk­raum und ein kleines Dozen­ten­zim­mer wurden auf dem freien Grund­stück aufge­stellt. Es waren die ersten Fertig­häu­ser in der Umgebung. „Bei den Prüfun­gen im Sommer war es in den Pavil­lons immer sehr heiß“, erinnert sich Helmut Maier. Er hat das Treffen feder­füh­rend organi­siert und freut sich, dass der Einla­dung immer­hin knapp die Hälfte gefolgt ist. Der heute 77-Jähri­ge war jahre­lang Mitglied des Kurato­ri­ums der Hochschu­le Biber­ach und hat die Verän­de­run­gen der HBC weitest­ge­hend mitverfolgt.

Was sich über die Jahrzehn­te hinweg verän­dert hat, stell­te Prof. Heiko Rahm den beson­de­ren Gästen vor. Neue Studi­en­gän­ge, digita­le Lehrfor­ma­te und moder­ne Labore. „Die Studi­en­in­hal­te sind komple­xer gewor­den und das Inter­net konnte man früher nicht als Infor­ma­ti­ons­quel­le hinzu­zie­hen“, vergleicht Maier den Studi­en­all­tag. Auch die Art und Weise der Wissens­ver­mitt­lung sei komplett anders gewesen. „Bei uns war das eher wie in der Schule. Von 8 bis 13 Uhr waren Vorle­sun­gen, zweimal die Woche auch am Nachmit­tag.“ Wer nicht zum Unter­richt erschie­nen ist, wurde notiert und beim nächs­ten Mal ermahnt. Während es stren­ge Regeln, wie die Anwesen­heits­pflicht gab, wurden andere Gewohn­hei­ten eher locker gesehen. „In den Vorle­sun­gen haben wir fast immer geraucht. Jeder von uns hat geraucht“, erinnert sich Gerlin­de Oster­tag. Für sie war es damals ein großer Wunsch, das Studi­um zu absol­vie­ren. Nach der Ausbil­dung zur techni­schen Zeich­ne­rin habe man ihr den großen Schritt nicht zugetraut. „Aber ich habe gewusst, dass ich das schaf­fe.“ Nach dem Studi­um ist sie Ingenieu­rin gewor­den und hat sich jahre­lang in einer (damals noch) Männer­do­mä­ne behauptet. 

Wie junge Studie­ren­de an der Hochschu­le Biber­ach heutzu­ta­ge arbei­ten, zeigte den ehema­li­gen Absolvent*innen eine Präsen­ta­ti­on im Labor für Vermes­sungs­tech­nik. Hier gaben Prof. Jörg Haupt­mann und Prof. Hans Quasnitza Einbli­cke in die Arbeit angehen­der Bauingenieur*innen. Virtu­al Reali­ty, Photo­gram­me­trie und Künst­li­che Intel­li­genz sind inzwi­schen fester Bestand­teil des Studi­en­all­tags – davon war damals noch lange nicht die Rede. Zeich­nun­gen und Bemes­sun­gen wurden noch auf Trans­pa­ren­ten angefer­tigt, was den ein oder anderen Studie­ren­den an seine Grenzen brach­te: „Zwei von uns sind immer mit dem Zug von Ulm nach Biber­ach gefah­ren. Im letzten Semes­ter war das vor den Prüfun­gen zu stres­sig und sie haben einfach in einem Zelt vor der Hochschu­le übernach­tet. Die feuch­te Luft hat den Trans­pa­ren­ten gar nicht gutge­tan und die Zeich­nun­gen waren immer total verschmiert“, erinnert sich Rudi Rembold. 

Trotz all dieser Verän­de­run­gen, die die Hochschu­le Biber­ach über die letzten Jahrzehn­te hinweg durch­lebt hat, hat sie doch zwei wesent­li­che Merkma­le beibe­hal­ten: Persön­lich­keit und Familia­ri­tät. Egal ob Professor*innen, Mitar­bei­ten­de oder Studie­ren­de – man kennt sich unter­ein­an­der. Das war vor 58 Jahren bei 25 Studie­ren­den so und auch 2022 bei knapp 2.500 Studie­ren­den hat sich dies nicht geändert. Das Wieder­se­hen von Rudi, Helmut und „Oskar“ hat es gezeigt – im Studi­um an der HBC entste­hen Freund­schaf­ten für’s Leben und Erinne­run­gen, die für immer bleiben.