MOSKAU/MINSK (dpa) – Nach mehre­ren Nieder­la­gen im Ukrai­ne-Krieg bringt Kreml­chef Putin Truppen in Belarus in Stellung. Für den briti­schen Geheim­dienst ist die gemein­sa­me Militär­ein­heit vor allem ein Ablenkungsmanöver.

Tausen­de russi­sche Solda­ten haben mit Panzern und anderer schwe­rer Militär­tech­nik in Belarus Stellung bezogen – inmit­ten Moskaus schwie­ri­ger Lage im Krieg gegen die Ukrai­ne. Sie bilden mit den belarus­si­schen Streit­kräf­ten eine neue Einheit zur Erfül­lung jedwe­der Aufga­be, wie der stell­ver­tre­ten­de russi­sche Komman­deur Viktor Smejan im Staats­fern­se­hen sagt.

«Der Kampf­geist ist da.» Doch die Statio­nie­rung von Hunder­ten gepan­zer­ten Fahrzeu­gen schürt Ängste, dass Kreml­chef Wladi­mir Putin in Belarus eine neue Front in seinem Krieg gegen die Ukrai­ne aufma­chen könnte.

Schon im Febru­ar zu Beginn des Krieges marschier­ten aus der Region Gomel im Süden von Belarus russi­sche Einhei­ten in den Norden der Ukrai­ne ein — von dort ist es nicht weit nach Kiew. Und auch jetzt berich­ten Augen­zeu­gen von erhöh­ten militä­ri­schen Aktivi­tä­ten in der Region. Laut ukrai­ni­schem General­stab in Kiew wächst die Gefahr eines zweiten Überfalls von Belarus aus, die militä­ri­schen Aktivi­tä­ten Russlands dort hätten zugenommen.

Nach briti­schen Erkennt­nis­sen ist die von Moskau ins Leben gerufe­ne gemein­sa­me Militär­ein­heit in erster Linie ein Ablen­kungs­ma­nö­ver. «Die Ankün­di­gung ist wahrschein­lich ein Versuch, russisch-belarus­si­sche Solida­ri­tät zu demons­trie­ren und die Ukrai­ne dazu zu bringen, Truppen zum Schutz ihrer nördli­chen Grenze abzuzie­hen», teilte das briti­sche Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um unter Berufung auf Geheim­dienst­in­for­ma­tio­nen mit.

Es sei unwahr­schein­lich, dass Russland eine weite­re kampf­be­rei­te Truppe aufstel­len könne, da seine Streit­kräf­te in der Ukrai­ne gebun­den seien, hieß es in London weiter. Das belarus­si­sche Militär verfü­ge höchst­wahr­schein­lich zudem nur über minima­le Fähig­kei­ten zur Durch­füh­rung komple­xer Operationen.

Kiew sieht Minsk längst als Kriegspartei

Der Macht­ha­ber Alexan­der Lukaschen­ko in Belarus beteu­ert, dass er sich nicht einmi­schen werde in den Krieg in der Ukrai­ne, sondern sich ledig­lich auf die Vertei­di­gung konzen­trie­re. Doch die Ukrai­ne sieht Belarus schon seit Beginn von Putins Krieg vor rund acht Monaten als Kriegs­par­tei. Lukaschen­ko stell­te damals Militär­ba­sen in Belarus den Russen für Angrif­fe auf das benach­bar­te Land zur Verfügung.

Dass nun eine massi­ve russi­sche Militär­prä­senz dauer­haft zemen­tiert wird, lässt bei vielen die Alarm­glo­cken schril­len. «Lukaschen­ko und Putin ziehen unser Land in den Krieg, sie lügen, dass angeb­lich von ukrai­ni­scher Seite eine Bedro­hung ausgeht», schimpft die im Exil im benach­bar­ten Litau­en leben­de Opposi­ti­ons­füh­re­rin Swetla­na Tichanows­ka­ja. Vielen Menschen in Belarus gilt sie als Siege­rin der Präsi­den­ten­wahl von 2020, nach der sich Lukaschen­ko, der als «letzter Dikta­tor Europas» gilt, mit Gewalt und Putins Hilfe an der Macht hielt.

«Lukaschen­ko ist eine Schan­de für mein Land», sagt Tichanows­ka­ja, die in dem Zugeständ­nis, russi­sche Solda­ten im Land zu statio­nier­ten, vor allem einen weite­ren Loyali­täts­be­weis für Putin sieht. Lukaschen­ko treffe selbst schon keine Entschei­dun­gen mehr, der Kreml steue­re die Politik in Belarus, betont Tichanows­ka­ja. Auch wirtschaft­lich hängt das Land, das vom Westen im Zuge der Nieder­schla­gung von Protes­ten nach der Wahl mit Sanktio­nen belegt wurde, am Tropf Russlands.

Zwar beteu­ert die Militär­füh­rung in Belarus immer wieder, die mit den russi­schen Solda­ten gebil­de­te gemein­sa­me Einheit diene ausschließ­lich der Vertei­di­gung. Weil aber Lukaschen­ko selbst jüngst erklär­te, er habe das «Regime einer Anti-Terror-Opera­ti­on» im Land einge­führt, vermu­ten Beobach­ter, dass es hier um viel mehr geht als um gemein­sa­me Ausbil­dung und Verteidigungsübungen.

Fast täglich behaup­ten Vertre­ter des Macht­ap­pa­rats in Minsk, Belarus könne überfal­len werden – etwa vom Nato-Mitglied Polen. Auch der Chef des Geheim­diens­tes KGB, Iwan Tertel, erzähl­te ganz im Stil Putins, Nachbar­län­der könnten in Belarus Terror­an­schlä­ge verüben, einen militä­ri­schen Überfall vorbe­rei­ten oder sogar zu einem Atomschlag bereit sein. Bewei­se dafür gibt es nicht.

«Hunder­te belarus­si­sche Freiwil­li­ge kämpfen für die Ukraine»

«Es ist nicht auszu­schlie­ßen, dass Lukaschen­ko tatsäch­lich militä­ri­sche Angrif­fe oder Attacken von Saboteu­ren gegen Belarus befürch­tet», sagt der im Exil leben­de Polito­lo­ge Artjom Schraib­man in seinem Blog im Nachrich­ten­ka­nal Telegram. «Hunder­te belarus­si­sche Freiwil­li­ge kämpfen für die Ukrai­ne, zugleich milita­ri­siert sich die belarus­si­sche Opposi­ti­on in Litau­en und Polen.»

Zugleich betont Schraib­man, dass es in Belarus einen breiten Konsens gebe, dass sich die belarus­si­schen Solda­ten nicht an dem Krieg in der Ukrai­ne betei­li­gen sollten. In der Gesell­schaft gebe es keine sozia­le Basis, auf die sich Lukaschen­ko stützen könnte. Schraib­man sieht das «Risiko einer Desta­bi­li­sie­rung des belarus­si­schen Regimes», sollte sich Lukaschen­ko auf einen wie auch immer gearte­ten Druck Putins einlas­sen, mit eigenen Solda­ten in der Ukrai­ne zu kämpfen.

Auch der Exper­te Waleri Karbe­le­witsch erwar­tet, dass Lukaschen­ko sich dagegen sträu­ben wird, sich mit eigenen Solda­ten in den Krieg hinein­zie­hen zu lassen. Auch er sehe, «dass der Krieg in der Ukrai­ne für Russland sehr erfolg­los läuft» – und wolle am Ende nicht mit auf der Verlie­rer­sei­te stehen. Für Moskau sei die Öffnung einer neuen Front für einen neuen Vormarsch auf Kiew – wie zu Beginn des Krieges – ungüns­tig. Es gebe kaum Straßen, das Gelän­de dort sei sumpfig und kaum geeig­net für Panzer und andere schwe­re Militärtechnik.

Karbe­le­witsch verweist zudem darauf, dass die belarus­si­sche Armee schwach aufge­stellt sei, es gebe nur etwa 15.000 gut ausge­bil­de­te Spezi­al­kräf­te. In einem richti­gen Krieg falle diese Zahl gar nicht ins Gewicht. Der Exper­te geht vielmehr davon aus, dass die russi­sche Präsenz vor allem der Ausbil­dung von Solda­ten dient, um sie anschlie­ßend an die Front in die Ukrai­ne zu schicken. «Russland selbst hat nicht genug Infra­struk­tur, Truppen­übungs­plät­ze für die Ausbil­dung der neu Einbe­ru­fe­nen», sagt Karbelewitsch.

300.000 Reser­vis­ten lässt Putin aktuell einzie­hen für den Kampf in der Ukrai­ne. Der Kreml­chef hat zugesi­chert, dass sie ausrei­chend vorbe­rei­tet werden sollten für den Einsatz an der Front. Zwar nannte Belarus die Zahl von 9000 russi­schen Solda­ten, die nun statio­niert seien in dem Land. Konkre­te Angaben zu ihren Aufga­ben gibt es aber nicht. In Minsk beteu­er­te Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Viktor Chrenin, es gehe ausschließ­lich um den Schutz von Belarus. Grund­la­ge der Militär­po­li­tik seines Landes sei es, «sich an den Verhand­lungs­tisch zu setzen und eine Einigung zu erzielen».

Von Ulf Mauder, dpa