BERLIN (dpa) — Die Bundes­re­gie­rung steht wegen ihrer Fehlein­schät­zung in Afgha­ni­stan unter Druck. Die Kanzle­rin räumt im Bundes­tag erneut Fehler ein. Reumü­tig tritt sie bei ihrer Regie­rungs­er­klä­rung aber nicht auf.

Bundes­kanz­le­rin Angela Merkel hat sich für Verhand­lun­gen mit den militant-islamis­ti­schen Taliban in Afgha­ni­stan über die Zeit nach dem Abzug der inter­na­tio­na­len Truppen ausgesprochen.

In einer Regie­rungs­er­klä­rung im Bundes­tag beton­te sie am Mittwoch aber auch, dass es «keine unkon­di­tio­nier­ten Verein­ba­run­gen» mit den neuen Macht­ha­bern in dem zentral­asia­ti­schen Krisen­land geben dürfe. Die CDU-Politi­ke­rin räumte erneut ein, dass die Bundes­re­gie­rung die jüngs­ten Entwick­lun­gen in Afgha­ni­stan falsch einge­schätzt hat und kündig­te eine umfas­sen­de Aufar­bei­tung an. Sie vertei­dig­te aber das umstrit­te­ne Vorge­hen bei der Aufnah­me ehema­li­ger afgha­ni­scher Mitar­bei­ter von Bundes­wehr und Bundes­mi­nis­te­ri­en in Deutschland.

Die Taliban hatten Afgha­ni­stan Mitte August in wenigen Tagen und ohne größe­re Gegen­wehr der Streit­kräf­te erobert. 26 westli­che Staaten versu­chen nun in einer Hauruck-Aktion, ihre eigenen Staats­bür­ger und schutz­su­chen­de Afgha­nen auszu­flie­gen. Dafür bleiben nur noch wenige Tage. «Die Entwick­lun­gen der letzten Tage sind furcht­bar, sie sind bitter», sagte Merkel dazu. «Für viele Menschen in Afgha­ni­stan sind sie eine einzi­ge Tragödie.»

Kritik an Umgang mit Ortskräf­ten zurückgewiesen

Merkel machte aber klar, dass man nun nicht mehr an den Taliban vorbei­kom­me, wenn man etwas in Afgha­ni­stan errei­chen wolle. «Unser Ziel muss es sein, dass so viel wie möglich von dem, was wir in den letzten 20 Jahren in Afgha­ni­stan an Verän­de­run­gen erreicht haben, bewahrt wird», sagte sie. Darüber sei auch mit den Taliban zu sprechen. «Die Taliban sind jetzt Reali­tät in Afgha­ni­stan. Diese neue Reali­tät ist bitter, aber wir müssen uns mit ihr auseinandersetzen.»

Der deutsche Diplo­mat Markus Potzel führt bereits seit einigen Tagen in Katar Gesprä­che mit Taliban-Vertre­tern über die Evaku­ie­rungs­ak­ti­on. Da der Militär­ab­zug wegen des Abzugs der US-Streit­kräf­te bis zum 31. August beendet werden muss, wird nun nach Wegen gesucht, auch danach noch Menschen außer Landes zu bringen.

Die massi­ve Kritik an dem Umgang der Bundes­re­gie­rung mit ehema­li­gen afgha­ni­schen Mitar­bei­tern wies Merkel weitge­hend zurück. Man sei in einem Dilem­ma gewesen. «Stellen wir uns für einen Moment vor, Deutsch­land hätte im Frühjahr nicht nur mit dem Abzug der Bundes­wehr begon­nen, sondern gleich auch mit dem Abzug von Mitar­bei­tern und Ortskräf­ten deutscher Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen», sagte sie. «Manche hätten dies sicher als voraus­schau­en­de Vorsicht gewür­digt, andere dagegen als eine Haltung abgelehnt, mit der Menschen in Afgha­ni­stan im Stich gelas­sen und ihrem Schick­sal überlas­sen werden.» Beide Sicht­wei­sen hätten ihre Berechtigung.

Merkel: Politi­sche Führung Afgha­ni­stans verantwortlich

Die Bundes­re­gie­rung habe damals sehr gute Gründe dafür gesehen, den Menschen in Afgha­ni­stan nach dem Abzug der Truppen wenigs­tens in der Entwick­lungs­zu­sam­men­ar­beit weiter zu helfen — «ganz konkre­te Basis­hil­fe von Geburts­sta­tio­nen bis zur Wasser- und Strom­ver­sor­gung», sagte Merkel. Im Nachhin­ein sei es leicht, die Situa­ti­on zu analy­sie­ren und zu bewer­ten. «Hinter­her, im Nachhin­ein alles genau zu wissen und exakt vorher­zu­se­hen, das ist relativ mühelos.» Doch die Entschei­dung habe in der damali­gen Situa­ti­on getrof­fen werden müssen.

Für den schnel­len Zusam­men­bruch in Afgha­ni­stan machte Merkel die Sicher­heits­kräf­te des Landes und die politi­sche Führung verant­wort­lich. Dass der gesam­te Einsatz mit der Haltung der USA als militä­risch Stärks­ten im Bündnis stehen und fallen werde, sei immer klar gewesen. «Auch dass es Kämpfe mit den erstark­ten Taliban geben könnte, nachdem die inter­na­tio­na­len Truppen abgezo­gen sein würden, haben wir als inter­na­tio­na­le Gemein­schaft erwar­tet», sagte Merkel. «Unter­schätzt aber haben wir, wie umfas­send und damit im Ergeb­nis wie atembe­rau­bend schnell die afgha­ni­schen Sicher­heits­kräf­te nach dem Truppen­ab­zug ihren Wider­stand gegen die Taliban aufge­ben würden, bezie­hungs­wei­se, dass sie einen solchen Wider­stand gar nicht erst aufneh­men würden.»

Bartsch an Minis­ter: «Sie sind in Ihren Ämtern gescheitert»

Links­frak­ti­ons­chef Dietmar Bartsch warf der Regie­rung in der Debat­te Handlungs­un­fä­hig­keit vor und forder­te perso­nel­le Konse­quen­zen. An Außen­mi­nis­ter Heiko Maas (SPD), Vertei­di­gungs­mi­nis­te­rin Annegret Kramp-Karren­bau­er (CDU) und Innen­mi­nis­ter Horst Seeho­fer (CSU) gerich­tet sagte er: «Die letzten Wochen sind unent­schuld­bar. Die Folgen Ihrer Fehler gefähr­den Menschen­le­ben. Sie sind in Ihren Ämtern gescheitert.»

Bartsch kriti­sier­te, dass Deutsche und Helfer nicht schon früher aus dem Land geholt wurden, statt­des­sen habe es Handlungs­un­fä­hig­keit gegeben. Die logische Reihen­fol­ge sei: Evaku­ie­ren und dann Abzie­hen. «Es ist ein Desas­ter!» Später sagte Bartsch: «Die, die daran betei­ligt waren, sollten nie wieder Mitglie­der einer Bundes­re­gie­rung sein.»

Grünen-Kanzler­kan­di­da­tin Annale­na Baerbock dringt auf einen sofor­ti­gen inter­na­tio­na­len Gipfel zur Afgha­ni­stan-Krise. An einem solchen Gipfel müssten «alle Nato-Staaten und die Anrai­ner­staa­ten betei­ligt» sein, erklär­te Baerbock in der Debat­te zur Regie­rungs­er­klä­rung von Merkel. Das sei nötig, um über die Unter­stüt­zung der Menschen im Land, die UN-Hilfe und auch die Missi­on vor Ort sprechen zu können, erklär­te die Grünen-Chefin.

Gleich­zei­tig machte sie deutlich, dass ihre Partei auf einen Unter­su­chungs­aus­schuss bestehe und die von der SPD vorge­schla­ge­ne Enquete­kom­mis­si­on für den falschen Weg halte.