BERLIN (dpa) — Panik­ma­che oder akute Kriegs­ge­fahr? Wie wahrschein­lich ein russi­scher Angriff auf die Ukrai­ne tatsäch­lich ist, weiß vielleicht nur Putin selbst. Mit dem trifft sich Kanzler Scholz am Diens­tag. Vorher stattet er der Ukrai­ne einen Solida­ri­täts­be­such ab.

Nach einer drama­ti­schen Zuspit­zung der Ukrai­ne-Krise in den vergan­ge­nen Tagen reist Bundes­kanz­ler Olaf Scholz heute nach Kiew, um den ukrai­ni­schen Präsi­den­ten Wolodym­yr Selen­skyj zu treffen.

Rein formal ist es sein Antritts­be­such als Kanzler gut zwei Monate nach seiner Verei­di­gung. Die gut vier Stunden in der ukrai­ni­schen Haupt­stadt werden aber ganz im Zeichen der zuneh­men­den Spannun­gen mit Russland und der jüngs­ten Kriegs­war­nun­gen aus den USA stehen. Am Diens­tag wird Scholz den russi­schen Präsi­den­ten Wladi­mir Putin in Moskau treffen.

«Die Ukrai­ne kann sich sicher sein, dass wir die nötige Solida­ri­tät zeigen, wie auch in der Vergan­gen­heit», sagte Scholz (SPD) vor seiner Abrei­se. Vor seinem Treffen mit Selen­skyj wird er am Grab des unbekann­ten Solda­ten einen Kranz nieder­le­gen und am Denkmal für die «Himmli­sche Hundert­schaft» der Opfer der Revolu­ti­on von 2014 gedenken.

Baerbock: «Absolut brenz­li­ge Situation»

In den vergan­ge­nen Tagen hat sich die Krise um den russi­schen Truppen­auf­marsch an der Grenze zur Ukrai­ne drastisch verschärft. Am Freitag warnte der Sicher­heits­be­ra­ter von US-Präsi­dent Joe Biden, Jake Sulli­van, offen vor einem russi­schen Einmarsch in die Ukrai­ne noch vor Ende dieser Woche. Russland spricht dagegen von «provo­ak­ti­ven Speku­la­tio­nen» und «Hyste­rie».

Zahlrei­che westli­che Staaten fordern dennoch ihre Staats­bür­ger zum Verlas­sen der Ukrai­ne auf — auch Deutsch­land. Gleich­zei­tig kommen die inten­si­ven diplo­ma­ti­schen Bemühun­gen um eine Deeska­la­ti­on nicht vom Fleck.

In Scholz’ Umfeld wird die Lage als «extrem gefähr­lich» einge­schätzt. Das «sehr besorg­nis­er­re­gen­de Gesamt­bild» werde die Gesprä­che mit Selen­skyj und Putin prägen, heißt es. Außen­mi­nis­te­rin Annale­na Baerbock (Grüne) sprach in der ARD von einer «absolut brenz­li­gen Situa­ti­on». Es gebe aber keine Anzei­chen dafür, «dass eine kriege­ri­sche Ausein­an­der­set­zung schon beschlos­se­ne Sache ist».

Rüstungs­hil­fe möglich — aber keine tödli­chen Waffen

Es wird erwar­tet, dass der Kanzler der Ukrai­ne bei seinem Besuch in Kiew weite­re wirtschaft­li­che Unter­stüt­zung zusagt. Seit Beginn des Ukrai­ne-Konflikts 2014 sind bereits fast zwei Milli­ar­den Euro aus Deutsch­land in das Land geflossen.

Die Ukrai­ne wünscht sich von Deutsch­land auch Waffen, um sich im Ernst­fall gegen Russland vertei­di­gen zu können. Der Botschaf­ter in Berlin, Andrij Melnyk, verlang­te am Sonntag 12.000 deutsche Panzer­ab­wehr­ra­ke­ten, um eine mögli­che russi­sche Boden­of­fen­si­ve gegen die Ukrai­ne abweh­ren zu können. «Die Lage ist schon drama­tisch», sagte er bei «Bild»-TV. «Worauf wir jetzt heute gefasst sein müssen, ist das schlimms­te Szenario.»

Die Bundes­re­gie­rung lehnt die Liefe­rung tödli­cher Waffen an die Ukrai­ne ab. Sie prüft aller­dings, Rüstungs­gü­tern unter­halb dieser Schwel­le zur Verfü­gung zu stellen. Auf einer Wunsch­lis­te der ukrai­ni­schen Botschaft vom 3. Febru­ar stehen eine Reihe Rüstungs­gü­ter, die eindeu­tig keine tödli­chen Waffen sind. Dazu gehören elektro­ni­sche Ortungs­sys­te­me, Minen­räum­ge­rä­te, Schutz­an­zü­ge, digita­le Funkge­rä­te, Radar­sta­tio­nen oder Nacht­sicht­ge­rä­te. Panzer­ab­wehr­ra­ke­ten stehen auf dieser Wunsch­lis­te nicht.

Nord Stream 2 beglei­tet Scholz auch nach Kiew

Ein weite­res schwie­ri­ges Thema wird Scholz nach Kiew und Moskau beglei­ten — die Pipeline zwischen Russland und Deutsch­land, deren Namen der Kanzler nicht mehr ausspre­chen mag: Nord Stream 2. Die Regie­rung in Kiew ist seit Jahren strikt gegen das Projekt, weil sie um Milli­ar­den-Einnah­men aus dem russi­schen Gastrans­fer durch die Ukrai­ne fürch­tet. Scholz hat die Pipeline nur verdeckt als mögli­che Sankti­on für den Fall eines russi­schen Einmarschs in die Ukrai­ne auf den Tisch gelegt. Ihren Namen bringt er seit Mitte Dezem­ber nicht mehr öffent­lich über die Lippen.

Selbst bei seinem Antritts­be­such in den USA blieb er dabei, obwohl US-Präsi­dent Joe Biden in seiner Anwesen­heit auf einer gemein­sa­men Presse­kon­fe­renz sehr deutlich wurde: Bei einer russi­schen Invasi­on der Ukrai­ne werde es «kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen», sagte Biden.

Rollen­tausch zwischen Stein­mei­er und Scholz

Nach seinem Besuch in Kiew kehrt Scholz am Montag­abend für ein paar Stunden nach Berlin zurück. Am frühen Diens­tag­mor­gen geht es dann nach Moskau, wo Putin ihn im Kreml empfängt. Scholz will dort bei seiner Doppel­stra­te­gie bleiben: Einer­seits die Drohung mit harten Konse­quen­zen für den Fall eines russi­schen Einmarschs in die Ukrai­ne. Anderer­seits Gesprächs­be­reit­schaft, um zu einer Deeska­la­ti­on zu kommen.

Zusam­men mit Frank­reich vermit­telt Deutsch­land seit dem Beginn des Ukrai­ne-Konflikts 2014 zwischen Kiew und Moskau. Mögli­cher­wei­se hält sich Scholz auch deswe­gen mit harten Ansagen gegen­über Moskau zurück. Das übernahm am Sonntag ungewöhn­li­cher­wei­se Bundes­prä­si­dent Frank-Walter Stein­mei­er. «Lösen sie die Schlin­ge um den Hals der Ukrai­ne», rief er Putin nach seiner Wieder­wahl zu. Norma­ler­wei­se ist die Rollen­ver­tei­lung zwischen Bundes­prä­si­dent und Bundes­kanz­ler umgekehrt. Das Staats­ober­haupt hält sich zurück, und der Kanzler spricht Klartext in aktuel­len Fragen.