BERLIN (dpa) — Wenn die SPD die Chance aufs Kanzler­amt haben will, muss sie einiges aufho­len. Auf dem Partei­tag soll der Start­schuss fallen — mit einem Programm, bei dem sich alles um «Respekt» dreht.

Vier Monate vor der Bundes­tags­wahl will die SPD mit einem Online-Partei­tag Auftrieb im Rennen um das Kanzler­amt bekommen.

Momen­tan liegen die Sozial­de­mo­kra­ten mit ihrem Kanzler­kan­di­da­ten Olaf Scholz in Umfra­gen deutlich hinter den Grünen mit Annale­na Baerbock und der Union mit Armin Laschet an der Spitze. SPD-General­se­kre­tär Lars Kling­beil gab sich vor dem Partei­tag trotz­dem optimis­tisch: «Das wird hier für uns Tag eins der Aufhol­jagd für die Bundes­tags­wahl», sagte er. «Das Rennen geht ja jetzt erst los.»

Im Zentrum des Partei­tags steht heute das Programm für die Bundes­tags­wahl im Herbst. Der Entwurf des Vorstands stellt unter den Schlag­wor­ten «Zukunft» und «Respekt» eine Neuaus­rich­tung der Wirtschaft hin zur Klima­neu­tra­li­tät und eine Stärkung des sozia­len Mitein­an­ders ins Zentrum. Scholz will mit einer Rede für Aufbruchs­stim­mung sorgen.

Der Vizekanz­ler, der bereits im vergan­ge­nen August von der Partei­spit­ze als Kandi­dat vorge­schla­gen worden war, soll von den 600 Delegier­ten auch noch einmal bestä­tigt werden. Die Delegier­ten sind per Inter­net zugeschal­tet. In der Berli­ner Partei­tags­hal­le sind aus Gründen des Corona-Schut­zes im Wesent­li­chen nur die engste Partei­füh­rung und das Tagungs­prä­si­di­um versammelt.

In Umfra­gen liegen die Sozial­de­mo­kra­ten abgeschla­gen bei 14 bis 16 Prozent. Die Grünen kommen in den Erhebun­gen seit Mitte April auf 21 bis 28 Prozent. Die Union erreicht Werte von 23 bis 28 Prozent. Die jüngs­ten dieser Erhebun­gen sehen die Grünen vor der Union. Kling­beil beton­te, für die SPD gehe es nun darum, «die Beliebt­heits­wer­te und die Kompe­tenz­wer­te, die Olaf Scholz hat, auf die SPD zu übertragen».

Im Zentrum des Programms, mit dem Scholz und die Partei ins Rennen ums Kanzler­amt gehen wollen, steht das Verspre­chen einer «Gesell­schaft des Respekts». «Wir wollen aus Träumen Zukunft machen», verspricht die SPD und nennt gerech­te Löhne, eine Wirtschaft, die klima­neu­tral weltweit Standards setzt sowie einen moder­nen und starken Sozialstaat.

KLIMA: Das Klima­ka­pi­tel haben die Sozial­de­mo­kra­ten nach dem Urteil des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts spontan neu geschrie­ben. Sie verspre­chen Klima­neu­tra­li­tät bis spätes­tens 2045 und sehen im Klima­schutz auch einen Jobmo­tor. Bis 2040 soll der Strom bereits vollstän­dig aus Erneu­er­ba­ren Energien kommen, Strom­net­ze und Ladesäu­len für E‑Autos sollen schnel­ler ausge­baut werden. Durch einen Umbau der EEG-Umlage soll die Strom­rech­nung sinken, den CO2-Preis fürs Heizen sollen die Vermie­ter übernehmen.

ARBEIT: Zwölf statt heute 9,50 Euro Mindest­lohn und das Zurück­drän­gen von Jobs ohne Tarif­ver­trä­ge soll Gering­ver­die­nern helfen. Aus den zuletzt rund sechs Millio­nen Minijobs sollen großteils regulä­re Arbeits­ver­hält­nis­se werden.

Aus Hartz IV soll ein einfa­che­res Bürger­geld werden, das auch «eine kaput­te Wasch­ma­schi­ne oder eine neue Winter­ja­cke nicht zur untrag­ba­ren Last» macht. Wohnung und Vermö­gen sollen in den ersten zwei Jahren nicht geprüft werden. Arbeits­lo­sen­geld soll für langjäh­ri­ge Einzah­ler länger als heute zwölf oder bei über 50-Jähri­gen 24 Monate gezahlt werden. Nach drei Monaten Arbeits­lo­sig­keit soll ein Recht auf Quali­fi­zie­rung greifen. Überstun­den sollen auf persön­li­chen Langzeit­kon­ten angespart werden können.

In der Alten­pfle­ge soll künftig generell nach Tarif bezahlt werden. Zur Finan­zie­rung soll es einen Mix aus steigen­den Steuer­zu­schüs­sen und Beiträ­gen bei Decke­lung von Eigen­an­tei­len der Pflege­be­dürf­ti­gen geben. Die Zahl der Erzie­hungs- und Lehrkräf­te soll mit attrak­ti­ve­ren Bedin­gun­gen bis 2030 verdop­pelt werden. Beschäf­tig­te von Online-Platt­for­men wie Liefer- oder Fahrdiens­ten sollen mehr Rechte und Lohn erhalten.

VERKEHR: Die SPD will den öffent­li­chen Nahver­kehr ausbau­en und Busse und Bahnen klima­neu­tral machen. Es soll mehr Platz für Fußgän­ger und Radfah­rer geben. Bahnfah­ren soll in Europa günsti­ger sein als Fliegen, dazu soll jede Großstadt wieder ans Fernzug-Netz angeschlos­sen werden — alte Bahnstre­cken werden reakti­viert. Die SPD will ein Tempo­li­mit von 130 Stunden­ki­lo­me­tern auf der Autobahn.

WIRTSCHAFT: Die SPD will sich für mehr Tarif­bin­dung, unter anderem im Handwerk, einset­zen. Gebüh­ren für Meister­kur­se sollen wegfal­len. Unter­neh­mens­grün­der und gemein­wohl­ori­en­tier­te Unter­neh­men sollen geför­dert werden. Der Bund soll jedes Jahr mindes­tens 50 Milli­ar­den Euro inves­tie­ren. Hoch verschul­de­ten Kommu­nen soll der Bund die Altschul­den abneh­men, damit sie besser inves­tie­ren können.

FINANZEN: Um mehr Geld inves­tie­ren zu können, will die SPD weiter­hin Schul­den machen — aller­dings nur so viel, wie die Schul­den­brem­se in der Verfas­sung erlaubt. Steuern sollen gerech­ter werden. Das bedeu­tet für die SPD weniger Steuern für kleine und mittle­re Einkom­men — dafür mehr für die oberen fünf Prozent. Dafür soll es eine Vermö­gen­steu­er von einem Prozent geben. Wer viel Geld hat, soll auch weiter Solida­ri­täts­zu­schlag zahlen.

RENTE: Selbst­stän­di­gen, Beamte und Beamtin­nen und Abgeord­ne­te sollen in die gesetz­li­che Rente einge­zo­gen und auch so das Renten­ni­veau bei mindes­tens 48 Prozent stabi­li­siert werden. Statt den Riester-Renten­ver­trä­gen soll es ein freiwil­li­ges Standard­an­ge­bot geben.

WOHNEN: Bei Wohnungs­knapp­heit sollen die Mieten nur noch mit der Infla­ti­on steigen dürfen. Bei der Förde­rung von Wohnei­gen­tum soll auch der Kauf von leerste­hen­den Häusern in Ortsker­nen geför­dert werden.

FAMILIEN: Hier will die SPD ein ganzes Bündel von Verbes­se­run­gen — unter anderem eine dauer­haf­te Auswei­tung der pande­mie­be­dingt erhöh­ten 29 Kinder­kran­ken­ta­ge auf 20 Tage pro Kind, Jahr und Eltern­teil. Frauen sollen an der Spitze und in Führungs­eta­gen von Unter­neh­men genau­so vertre­ten sein wie Männer — sonst sollen Sanktio­nen greifen.

GESUNDHEIT: Die SPD will eine Bürger­ver­si­che­rung mit gleichem Zugang zu medizi­ni­scher Versor­gung für alle. In Kranken­häu­sern soll es mehr ambulan­te Behand­lun­gen geben. Außer­dem soll mehr mit maßge­fer­tig­ten, auf den Patien­ten zugeschnit­te­nen Medika­men­te gearbei­tet werden. Eine regulier­te Canna­bis-Abgabe an Erwach­se­ne soll in Modell­pro­jek­ten erprobt werden können.

INTEGRATION: Für eine erleich­ter­te Integra­ti­on von Migran­tin­nen und Migran­ten soll unter anderem die generel­le Möglich­keit von Mehrstaat­lich­keit gesetz­lich veran­kert werden.

DIGITALISIERUNG: In jedem Haushalt und Unter­neh­men soll es Inter­net mit einer Bandbrei­te von mindes­tens einem Gigabit pro Sekun­de geben. Bund, Länder und Kommu­nen werden verpflich­tet, mehr digita­le Services anzubie­ten. Jeder Schüler soll ein digita­les Endge­rät wie Laptop oder Tablet bekom­men. Für Menschen mit gerin­gen Einkom­men, Schüler und Studen­ten soll es spezi­ell günsti­ge Inter­net­ta­ri­fe geben.

EUROPA: Die EU soll gestärkt werden — auch finan­zi­ell. Die Besteue­rung digita­ler Großkon­zer­ne, eine CO2-Abgabe sowie neue Einnah­men aus dem Emissi­ons­han­del sollen dazu dienen. Klima, Agrar, Arbeit, Handel: Das sind die Felder, auf denen die SPD die EU ökolo­gi­scher und sozia­ler machen will. Bei Asyl und Krisen­prä­ven­ti­on soll sie gestärkt werden.

Von There­sa Münch und Basil Wegener, dpa