BERLIN (dpa) — Der Bundes­ge­sund­heits­mi­nis­ter rät dazu, einige Fachleu­te winken ab. Brauchen gesun­de Erwach­se­ne derzeit einen zweiten Corona-Booster? Manche Exper­ten halten das sogar für kontra­pro­duk­tiv. Umso wichti­ger ist es, die Argumen­te beider Seiten zu kennen.

Wer derzeit über eine zweite Booster-Dosis der Corona-Impfung nachdenkt, kann schnell den Durch­blick verlie­ren: Die Ratschlä­ge aus Politik, Behör­den und von der Ständi­gen Impfkom­mis­si­on (Stiko) unter­schei­den sich. Ja was denn nun?

Wer empfiehlt was?

Die für Impfemp­feh­lun­gen in Deutsch­land zustän­di­ge Stiko hält eine zweite Auffrisch­imp­fung bisher nur für Teile der Bevöl­ke­rung für sinnvoll: etwa für Menschen ab 70 Jahren, Patien­ten mit unter­drück­tem Immun­sys­tem, Pflege­heim­be­woh­ner und Perso­nal medizi­ni­scher Einrich­tun­gen. Weite­re Fachleu­te stärk­ten der Stiko in den vergan­ge­nen Monaten bei dieser Frage den Rücken.

Bundes­ge­sund­heits­mi­nis­ter Karl Lauter­bach (SPD) hinge­gen drängt immer wieder auf mehr Viert­imp­fun­gen und brach­te diese zuletzt für alle gesun­den Erwach­se­nen ins Spiel. Dann sind da noch zwei EU-Behör­den: ECDC und EMA riefen die Mitglieds­staa­ten auf, zweite Booster schon ab 60 Jahren anzubie­ten. Stiko-Chef Thomas Mertens hatte darauf­hin angekün­digt, das Gremi­um werde sich «relativ bald» zu einer mögli­chen Erwei­te­rung der bestehen­den Empfeh­lung äußern.

Wie begrün­det Lauter­bach seinen Rat für unter 60-Jährige?

Wolle man den Sommer ohne Risiko einer Erkran­kung genie­ßen, würde er die zweite Auffrisch­imp­fung — «in Abspra­che natür­lich mit dem Hausarzt» — auch Jünge­ren empfeh­len, sagte Lauter­bach kürzlich dem «Spiegel». Mit der zweiten Booster-Impfung habe man «eine ganz andere Sicher­heit». Er argumen­tiert mit einem für ein paar Monate deutlich verrin­ger­tem Infek­ti­ons­ri­si­ko und deutlich gerin­ge­rem Long-Covid-Risiko.

Was sagen Kriti­ker dieser Forderung?

Der Virolo­ge Mertens sagte der «Welt am Sonntag», er kenne keine Daten, die den Ratschlag von Lauter­bach recht­fer­tig­ten. «Ich halte es für schlecht, medizi­ni­sche Empfeh­lun­gen unter dem Motto «viel hilft viel» auszu­spre­chen». Die EU-Behör­den ECDC und EMA hielten fest, dass es derzeit keine klaren epide­mio­lo­gi­schen Bewei­se gebe, die die Gabe zweiter Booster bei immun­ge­sun­den Menschen unter 60 Jahren stützen — es sei denn, Patien­ten hätten gesund­heit­li­che Schwachstellen.

Was sind die Argumen­te gegen Lauter­bachs Rat?

Aus Sicht mehre­rer Immuno­lo­gen reichen für gesun­de Erwach­se­ne unter 60 die bisher von der Stiko empfoh­le­nen drei Corona-Impfun­gen, um ein stabi­les immuno­lo­gi­sches Gedächt­nis aufzu­bau­en. Es biete in der Regel zumin­dest Schutz vor schwe­rer Erkran­kung, Kranken­haus und Tod. Absolu­ten, langan­hal­ten­den Schutz vor Infek­ti­on bringe jedoch auch Dosis vier für diese Gruppe nicht. Wer zum Beispiel vor dem Urlaub keine Anste­ckung mehr riskie­ren wolle, solle sich etwa durch Maske, Abstand und Kontakt­re­duk­ti­on schüt­zen, rät Carsten Watzl, General­se­kre­tär der Deutschen Gesell­schaft für Immuno­lo­gie. Auch Epide­mio­lo­ge Hajo Zeeb geht von einem allen­falls gerin­gen Vorteil der zweiten Booster-Impfung für unter 60-Jähri­ge aus, insbe­son­de­re wenn Menschen auch noch zwischen­zeit­lich erkrankt waren.

Welche Rolle spielt der Impf-Zeitpunkt?

Der ist keines­wegs neben­säch­lich. Schließ­lich wird für den Herbst nicht nur wieder eine Zunah­me des Infek­ti­ons­ge­sche­hens erwar­tet — sondern auch Vakzi­ne, die an Omikron angepasst sind. Es dürfte also nochmal eine größe­re Impfkam­pa­gne anste­hen. Aller­dings ist momen­tan ungewiss, mit welchen Mutatio­nen das Virus bis dahin aufwar­tet und für wen dann erneu­te Impfemp­feh­lun­gen ausge­spro­chen werden.

Was man aber schon sagen kann: Impfabstän­de von mehre­ren Monaten haben sich laut Stiko-Mitglied Chris­ti­an Bogdan (Unikli­ni­kum Erlan­gen) als vorteil­haft erwie­sen für die Stärke der ausge­lös­ten Immun­ant­wort und für die daraus resul­tie­ren­de Schutz­dau­er. «Beson­ders wichtig ist, dass eine Booster-Impfung — also die dritte Impfung — in einem deutli­chen Abstand zur zweiten Impfung statt­fin­det», im Ideal­fall nicht früher als sechs Monate danach. Dies gelte auch für einen mögli­chen zweiten Booster. Dieser Abstand gewähr­leis­te eine Steige­rung der Immun­ant­wort. Impfe man jedoch in eine laufen­de Immun­ant­wort hinein, sei der Effekt stark abgeschwächt.

Kann die vierte Dosis auch ander­wei­tig kontra­pro­duk­tiv sein?

Stiko-Mitglied Bogdan sagt, dass es zur Frage des mögli­chen Schadens von zusätz­li­chen, klinisch nicht angezeig­ten Impfun­gen bisher für die Covid-Impfstof­fe keine umfas­sen­den immuno­lo­gi­schen Unter­su­chun­gen gebe. Manche Exper­ten verwei­sen zwar darauf, dass etwa von wieder­hol­ten Impfun­gen etwa gegen Pocken oder Influ­en­za keine negati­ven Effek­te bekannt seien — ebenso wenig bei den Einzel­fäl­len, in denen sich Menschen etliche Male gegen Covid-19 impfen ließen.

Jetzt bitte Klartext: Sollte ich mir den zweiten Booster holen?

Auch wenn es unbefrie­di­gend ist: Zum jetzi­gen Zeitpunkt kann man diese Frage nicht pauschal beant­wor­ten. Es hängt auch davon ab, wie gut das Immun­sys­tem des Einzel­nen auf die ersten drei Impfun­gen reagiert hat. Der Immuno­lo­ge Andre­as Thiel von der Berli­ner Chari­té sagt, für «manche wenige» Menschen unter 60 könnte die vierte Impfung essen­zi­ell sein — aller­dings könne man die nicht einfach erken­nen. Für die meisten in dieser Alters­grup­pe sei eine vierte Dosis dagegen nicht wirklich essen­zi­ell. «Jeder muss diese Frage für sich selbst beantworten.»

Aller­dings kann der eigene Hausarzt bei der Entschei­dung helfen. Gesetz­lich zustän­dig für Impfemp­feh­lun­gen ist die Stiko, auch viele Ärzte richten sich nach ihren Ratschlä­gen. Aller­dings dürfen Medizi­ner auch ohne Stiko-Empfeh­lung einen zweiten Booster spritzen.

Wie steht es denn derzeit insge­samt um den Impfsta­tus der Nation?

Abgese­hen von der Frage nach mehr Viert­imp­fun­gen: Schon gemes­sen an den bishe­ri­gen Stiko-Empfeh­lun­gen klaffen einige Impflü­cken. Das Robert Koch-Insti­tut gab in einem Bericht vom Juli an, dass noch etwa 1,3 Millio­nen Menschen ab 60 Jahren und rund 7,9 Millio­nen Erwach­se­ne unter 60 ihren Impfschutz mit mindes­tens einer Impfung auffri­schen müssten. Noch gar keine Impfung erhal­ten hätten rund 1,9 Millio­nen Menschen ab 60 und rund 7,3 Millio­nen Erwach­se­ne unter 60 Jahre.

Der Hambur­ger Inten­siv­me­di­zi­ner Stefan Kluge berich­te­te auf Twitter, dass leider immer wieder Risiko-Patien­ten mit unvoll­stän­di­ger Corona-Impfse­rie aufge­nom­men würden: Jüngst etwa eine mit Sars-CoV‑2 infizier­te 90-Jähri­ge, die nur einmal geimpft worden sei. «Diese Impflü­cken sollten jetzt geschlos­sen werden», appel­lier­te er.

Von Gisela Gross, Walter Willems und Valen­tin Frimmer, dpa