BERLIN (dpa) — Pullun­der sind altmo­disch und nichts für den Sommer? Mit diesem Mythos wird jetzt aufge­räumt. Omas und Opas Mode ist zurück. Elite-Inter­nat-Style ist chic. Oder ist das nur ein gemach­ter Hype?

Der angeb­lich spießi­ge Pullun­der hat in deutschen Geschichts­bü­chern einen bemer­kens­wer­ten Platz. Im gelben Pullun­der formte einst der FDP-Politi­ker Hans-Dietrich Genscher als Außen­mi­nis­ter maßgeb­lich die Deutsche Einheit mit. Das ärmel­lo­se Kleidungs­stück, das der sächsi­sche Comedi­an Olaf Schubert gern mit Rhombus-Muster trägt oder Komiker Karl Dall einst in seinem Bühnen­pro­gramm «Der Opa», soll jetzt wieder angesagt sein. Weil es den Preppy-Style bedient. Und weil der Oma/O­pa-Stil im Trend liegt. Wer das jetzt alles nicht versteht, muss wohl weiterlesen.

«Was grund­sätz­lich spießig und altba­cken klingt, erfährt 2023 einen großen Hype und ist alles andere als langwei­lig», schrieb kürzlich das Lifestyle-Magazin «Gala». Der sogenann­te Granny Style verra­te schon im Namen, dass es «um unsere Omas und ihre Garde­ro­be» gehe. «Manch­mal bezieht es auch Opas Kleider­schrank mit ein — schließ­lich haben wir Geschlech­ter­kli­schees längst hinter uns gelassen.»

Danie­la Uhrich vom Lady-Blog erklärt, der Trend funktio­nie­re tatsäch­lich für Frauen wie für Männer. «In der Modebran­che gibt es zuneh­mend ein Bewusst­sein für Gender­flui­di­tät und Unisex-Mode. Der Pullun­der als vielsei­ti­ges Kleidungs­stück passt gut in diese Tendenz zur Geschlech­ter-Neutra­li­tät. Und noch in einem weite­ren Punkt entspricht er dem Zeitgeist: In Homeof­fice-Zeiten lieben wir Looks, die bequem und gut angezo­gen zugleich sind.»

Vom Spießer­teil zum Must-have

Uhrich erläu­tert: «Seit etwa drei Jahren erlebt der Pullun­der eine Renais­sance.» Dass sich der Pullun­der vom Spießer­teil zum Mode-Must-have und sogenann­ten It-Piece gemau­sert habe, liege an zwei Trends: dem Grand­pa- und dem Preppy-Style. Großva­ters Kleider­schrank sei nun Inspi­ra­ti­ons­quel­le. Zum Look mit Cordho­se und Strick-Cardi­gan dürfe auch der wolli­ge Pullun­der nicht fehlen.

Der Preppy-Stil, abgelei­tet von den schicken Privat­schu­len namens Prepa­ra­to­ry Schools, erlebe ein erneu­tes Revival. «Zum Elite-Inter­nat-Chic zählt Mode für Tennis, Segeln, Polo und die Biblio­thek, also etwa Poloshirts, Strick-Pullis, Loafer und Boots­schu­he, Perlen und Pullun­der mit V‑Ausschnitt.»

Beide Trends sprechen für eine Rückbe­sin­nung auf Tradi­ti­on und Retro-Looks, wie die Journa­lis­tin und Autorin Uhrich («lady-blog.de») sagt. «In einer schnell­le­bi­gen und von Techno­lo­gie gepräg­ten Welt erinnert der Pullun­der an vergan­ge­ne Zeiten.» Einer der großen Verfech­ter des nostal­gi­schen (und durch­aus auch ironi­schen) Kleidungs­stücks sei der briti­sche Popstar Harry Styles.

Eine sozusa­gen überar­bei­te­te Versi­on des Pullun­ders können Frauen zudem beispiels­wei­se über einem Kleid, als Oversi­ze-Varian­te (also als Pullun­der­kleid) über einer Bluse oder als Top zu Shorts tragen.

Kommer­zi­ell lanciert?

Die Kleidungs­his­to­ri­ke­rin Julia Burde ist in ihrer Einschät­zung von Retro-Mode und Trend-Teilen wie dem Pullun­der vorsich­ti­ger: «In der Frage, inwie­weit die Wieder­kehr von Retro-Elemen­ten wie zum Beispiel dem Pullun­der tatsäch­lich sozio­kul­tu­rell hervor­ge­bracht oder doch eher durch Mecha­nis­men des kommer­zi­el­len Modemark­tes bewusst lanciert wird, tendie­re ich zu Letzte­rem», sagt sie.

«Der Pullun­der ist Sport­klei­dung. Seine Anfän­ge reichen ins späte 19. Jahrhun­dert zurück, als Strick- und Trikot­klei­dung zum Inbegriff moder­ner Kleidung wurden», sagt Autorin Burde («Die Begra­di­gung der Taillen­kon­tur in der Männer­mo­de»). Ausge­gan­gen sei dies von den Sport­mann­schaf­ten anglo­ame­ri­ka­ni­scher Elite-Unis — im Grunde die Keimzel­le der Freizeit­klei­dung (Leisu­re-Wear), die heute globa­li­siert sei «und bürger­li­che Dress­codes weitge­hend gekippt hat».

Der Pullun­der wurde laut Burde, die Dozen­tin im Fach Kultur­ge­schich­te der Kleidung am Studi­en­gang Kostüm­bild der Univer­si­tät der Künste Berlin ist, ab den 1920er Jahren zum Element der Männer­gar­de­ro­be. Und zwar in allen sozia­len Schich­ten, etwa als Ersatz für die Weste.

Die Mode der 1970er Jahre sei selbst schon eine Retro­mo­de gewesen. Sie «griff den Pullun­der der 20er und 30er auf: als sport­li­ches “salop­pes” Genre jenseits alther­ge­brach­ter Dress­codes», sagt Burde. Kurze schnel­le Modekon­junk­tu­ren haben nicht immer kultur­theo­re­tisch inter­pre­tier­ba­re Hinter­grün­de, wie Burde betont. «Ich halte diesen und alle anderen “Trends” für eine Konstruk­ti­on aus Kommer­zia­li­tät, media­ler Kommu­ni­ka­ti­on und Retro-Moden. Ich mag mich irren.»

Von Gregor Tholl, dpa